Mit „Cybermobbing“ wird gemeinhin Mobbing unter Schüler*innen bezeichnet, das online stattfindet. Manchmal ist auch Mobbing unter Erwachsenen mitgemeint, wobei hier oft nicht ausreichend von Hate Speech, Stalking oder anderen Straftaten abgegrenzt wird. Seit einigen Jahren nimmt die Berichterstattung zu Internetmobbing an Schulen (gefühlt) zu. Meistens werden die Geschichten der Opfer erzählt – was gut ist – doch auch wenn versucht wird, Auswege aus der Gewalt zu finden, Auswege aus der Gewalt aufzuzeigen, werden nur die Leidtragenden angesprochen. So ist es auch in der aktuellen Ausgabe der Zeitschrift des Deutschen Frauenrats, die ich hier herausgreife, die aber keinesfalls einen Einzelfall darstellt.
Unter dem Artikel findet sich ein Kästchen mit Tipps: „Was tun bei Cybermobbing?“. Gleich der erste Ratschlag ist, dass Opfer so wenig wie möglich Privates von sich online stellen sollen. Dieser Satz ist als Ratschlag absolut unbrauchbar, denn er sagt vor allem eines aus: Du bist Schuld, wenn Menschen dich bedrohnen oder beleidigen, denn du hast falsch gehandelt! Das ist Victim Blaming . Menschen müssen so viel oder so wenig über sich preisgeben dürfen, wie sie möchten – verwerflich oder gar strafbar ist, was Täter*innen mit dem Wissen tun, das sie erwerben.
In der
@frauenrat
wird Jugendlichen geraten, im Netz wenig „Angriffsfläche“ zu bieten, um Cybermobbing zu vermeiden. NEIN. Einfach nein.
— Tugendfurie (@Tugendfurie)
June 28, 2015
Und was ist in Zeiten von sozialen Netzwerken denn „zu viel Privates“? Alle Menschen (bei Weitem nicht nur Jugendliche!) müssen den Umgang mit dem Internet lernen und verstehen, was mit ihren Daten passieren kann. Die Schlussfolgerung kann aber nicht sein, nichts mehr online zu stellen. Angstmacherei ist keine Medienkompetenz. Gerade Menschen kurz vor dem Eintritt ins Berufsleben, also Schüler*innen, müssen sich heutzutage verstärkt online präsentieren, zum Beispiel in extra dafür vorgesehenen Jobnetzwerken. Ähnliches gilt bei politischem Engagement: Menschen, die Ämter innehaben oder Aufgaben übernehmen, haben oft online auffindbare Kontaktdaten, um zum Beispiel für Journalist*innen ansprechbar zu sein. Jugendliche von solchen Aufgaben auszuschließen, kann nicht die Lösung sein, vor allem nicht, da so oft behauptet wird, Jugendliche seien politikverdrossen und würden heutzutage gar keine Verantwortung mehr übernehmen wollen.
Sich im Internet – auch mit privaten Daten – darzustellen, ist nicht immer nur lustige Spielerei, es ist in der heutigen Welt auch gängige Praxis. Wer sich dem grundsätzlich verwehrt, wird an einigen Stellen ausgeschlossen bleiben, Aufträge nicht bekommen, wichtige Chancen verpassen. Jugendliche müssen sich auch im Netz ausprobieren können – unsere Aufmerksamkeit muss sich auf diejenigen richten, die zu Mobber*innen oder Gewalttäter*innen werden. Davon ist in den Tipps des Frauenrats nichts zu lesen, denn es geht weiter mit Ansprachen an diejenigen, die bereits zum Opfer wurden und nun Schadensbegrenzung betreiben müssen.
Oft schwingt bei der Debatte rund um „Cybermobbing“ an Schulen mit, Mobbing sei im Internet erfunden worden. Lehrer*innen und Eltern stehen angeblich plötzlich vor einem großen Problem und wissen nicht, wie sie damit umgehen sollen. Als ich in die Unterstufe ging, da waren wir Schüler*innen noch keine Internetnutzer*innen und trotzdem wurde gemobbt. Da wurden Fotos aus so genannten Freundschaftsbüchern geklaut und zusammen mit diffamierenden Texten in der Schule verteilt. Da wurde laut in der Klasse gelästert, da wurden Leute auf dem Nachhauseweg verfolgt und am Nachmittag bei diesen Leuten angerufen (weil es offene Telefonlisten gab, ganz analog auf Papier). Und schon damals waren die Lehrer*innen überfordert, schon damals fühlten sie sich oftmals nicht zuständig und schon damals richteten sich ihre Psychologisierungen und Ursachensuche oft an die Opfer. Scheinbar hat sich da wenig geändert, denn der Experte im Magazin des Frauenrats wird wie folgt zitiert: „Als Risikofaktoren gelten mangelndes Einfühlungsvermögen und geringes Selbstwertgefühl“. Nein, hier sind nicht die Täter*innen gemeint, es geht um die Opfer. Hier werden Gründe dafür gesucht, die rechtfertigen, dass Menschen von anderen Menschen fertig gemacht werden.
Der Untertitel des Artikels lautet „Cybermobbing unter Jugendlichen hat massiv zugenommen – viele Eltern sind alarmiert“. Sind eigentlich auch die Eltern der Täter*innen alarmiert? Wann wird sich mal damit beschäftigt, was Menschen zu empathielosen Täter*innen macht? Und gemeint ist keine Diskussion rund um Videospiele, „Problemfamilien“ oder gar Religion, was klassischerweise nach Gewalttaten passiert. Was total fehlt, ist die Gefährder*innenansprache und auch die Ursachenforschung, was schon Schüler*innen zu Gewalttäter*innen macht. Im Artikel der Zeitschrift Frauenrat findet sich dazu nur folgende Erklärung: „Unbedachtheit spielt eine große Rolle. Viele stellen aus Wut oder aus Versehen etwas ins Netz“. Wenn wir von Mobbing sprechen, sprechen wir von anhaltendem, systematischem Ausschließen, Beleidigen, Bedrohen und so weiter. Das hat mit Versehen nichts zu tun. Allein schon der Begriff „Cybermobbing“: Wer heute noch ironiefrei „Cyber“ sagt, sagt sehr viel darüber aus, wie gut er oder sie sich im Internet auskennt. „Cyber“ klingt nach „im Internet surfen“, „das geheimnissvolle World Wide Web entdecken“ – und auch nach „Weltraum“, „weit weg“ und „nicht echt“. Gerade, wenn wir über Gewalt im Netz reden, ist es fatal, solche Assoziationen zuzulassen.
Zum Glück spricht der Artikel auch einen sehr wichtigen Punkt an, nämlich welche Folgen für die Opfer von Mobbing bleiben: „Depressionen, Angststörungen, Wut, aggressives Verhalten, psychosomatische Beschwerden, Schulphobie, posttraumatische Belastungsstörungen bis hin zu Suizidgedanken und Suizidversuchen.“ Und zusätzlich dazu sollen sich Opfer noch damit beschäftigen, mit welchem Verhalten sie die Gewalt ausgelöst haben? Das ist unzumutbar und unmenschlich.
Gewalt ist real, egal ob im Internet oder auf dem Schulhof. Mobbing ist Gewalt und kein Versehen. Und Schuld tragen weder die Opfer noch die genutzten Instrumente, Schuld tragen die Täter*innen.
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2007 gründete sich die Crafting-Community Ravelry , in der mittlerweile über 5 Millionen User*innen angemeldet sind und in eigenen Profilen ihre Strick-, Häkel- oder Spinnprojekte zeigen, in Foren oder thematischen Gruppen diskutieren oder die Muster- und Materialdatenbanken nutzen. Dass sich dieses große Netzwerk nicht außerhalb emanzipatorischer Diskurse bewegt, zeigt sich nicht nur in der großen Zahl an feministischen und queeren Diskussionsgruppen, sondern auch in der Firmenpolitik der Betreiber*innen: Hate Speech ist in den Community Guidelines explizit verboten und mit Konsequenzen verbunden – davon könnten sich andere Plattformen einiges abschauen.
Neben solchen sozialen Netzwerken und Foren finden sich im Netz auch zahlreiche Blogs zum Thema Handarbeit. Warum schreiben Menschen über Handarbeit und – viel wichtiger – warum lesen andere diese Artikel? Die amerikanische Geschlechterwissenschaftlerin Caroline Porter schrieb einen Aufsatz (
pdf
) zu Blogs von Frauen, die von Haushalt, Familie und auch Handarbeit handeln. Sie führt die Vorteile auf, die es hat, dass Frauen im Internet publizieren können: Ihre Blogs bekommen Aufmerksamkeit, dienen als Zuverdienst und vor allem zur Vernetzung und um auf neue Ideen und neues Wissen zu stoßen. Das Schreiben und Veröffentlichen an sich kann als emanzipatorischer Akt gesehen werden, denn als weiblich gelesene Themen schaffen es selten in den medialen Diskurs des Mainstreams. Das hat natürlich auch mit der mangelnden Diversität in Redaktionen zu tun.
Blogs sind die Neue Öffentlichkeit und DIY-Blogs widersprechen somit dem Konzept von Neuer Häuslichkeit, den Handarbeit findet nicht mehr nur im Privaten statt. Handarbeit mit Häuslichkeit gleichzusetzen, trifft also den Kern der Sache nicht.
Was aus emanzipatorischer Sicht bei Handarbeitsblogs jedoch auch beachtet werden muss: Blogs, die Aufmerksamkeit bekommen, haben Privilegien inne, die natürlich auch wieder Ausschlüsse produzieren. Die „großen“ Crafting-Blogs und -Netzwerke, die dauernd verlinkt und empfohlen werden, reproduzieren leider vielfach das übliche Bild der Gesellschaft: Die Leute sind hetero, weiß, gehören zur Mittelschicht und sind „gesund“ (und wenn sie richtig Aufmerksamkeit kriegen wollen sind sie männlich). Queer-feministische Kritik muss an dieser Stelle ansetzen und zwar ohne einzelne Menschen zu beschämen, sondern indem Systeme kritisiert werden. Es gibt online und offline Handarbeitsgruppen, die genau dies tun wollen und sich deshalb Queer-Feminismus auf die Fahne geschrieben haben.
Handarbeit kann auf unterschiedliche Weise empowernd sein: Ich habe den
Beitrag
einer jungen genderfluiden Person gefunden, die über das Stricken einen Schulaufsatz geschrieben hat und dort ausdrückt, wie sehr Stricken Empowerment sein und Geschlechterkategorien aushebeln kann.
Handarbeiten kann aber auch schlicht Spaß machen und entspannen, was förderlich für die Gesundheit ist. Du kannst dir also selbst durch den Herstellungsprozess etwas Gutes tun, aber auch die Tatsache, dass du selbst mit deinen eigenen Händen etwas für dich selbst herstellen kannst, empowert. Handarbeiten können auch dazu genutzt werden, aktivistisch tätig zu werden. Viele Menschen stellen beispielsweise aus Protest gegen die Arbeitsbedingungen in der Modeindustrie ihre eigene Kleidung her – oder weil sie ihren Kindern mehr als rosa und blau bieten wollen oder weil sie nicht den gängigen Schönheitsnormen entsprechen, aber
schön gekleidet
sein wollen.
Craftivismus
nennt sich diese Bewegung und meint sowohl textiles Arbeiten als aktivistische Praxis als auch Kritik an der Textilindustrie. Mit Handgemachtem können politische Botschaften verbreitet werden. Das zeigt sich zum Beispiel in einigen Yarnbombing-Projekten (
Frauentag
,
#aufschrei
,
Olympische Spiele
) oder in großartigen
Stickprojekten
.
DIY kann eine emanzipatorische Praxis sein, genau wie das öffentliche Schreiben darüber und das Raumeinnehmen mit als „weiblich“ gelabeltem Tun. Ich wünsche mir deshalb weniger Vorurteile gegenüber Handarbeit an sich und weniger Geringschätzung von Personen, die handarbeiten – besonders, wenn sie nicht cis-männlich, weiß und hetero sind.
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Stricken, Häkeln, Nähen und andere Handarbeiten sind seit einigen Jahren wieder stark im Kommen: Handarbeitsläden sehen heute anders aus als früher und es gibt sie auch in hippen Stadtteilen. Moderne Handarbeitsbücher richten sich auch an jüngere Leute und natürlich gibt es das Internet als neue Informationsquelle. Parallel zum Handarbeitsboom wird das Thema aber auch kritisch betrachtet: Es wird das Problem der „Neuen Häuslichkeit“ heraufbeschworen, also eine Entwicklung, die den Rückzug aus der öffentlichen Sphäre ins Private bedeutet. Da wird dann eine apolitische Jugend beschworen, die nur noch Handarbeit, Gärtnern, Kochen o.Ä. als ihren Lebensmittelpunkt betrachten und die Augen vor dem „Ernst des Lebens“ verschließen. Ich möchte gar nicht leugnen, dass es diesen Trend gibt. Doch Zeitungen oder Zeitschriften, die gleichermaßen alte weiße Männer dafür bezahlen, feministische Aktivistinnen zu beleidigen und sexistische, rassistische, homofeindliche Hate Speech immer noch verharmlosend „Trollerei“ nennen, sollten vielleicht nicht ausgerechnet die Handarbeit als Keim des konservativen Rollbacks bezeichnen. Kritik sollte nicht bei Blümchenmustern ansetzen, sondern bei diskriminierenden Systemen. Es geht nicht um die Vorlieben Einzelner, sondern um die Gesellschaft an sich.
Handarbeit ist (heute –
das war nicht immer so
) mit Weiblichkeit assoziiert und mit der häuslichen Sphäre verbunden, weil sie jahrhundertelang drinnen ausgeführt wurde und Teil der unbezahlten Care Arbeit von Frauen war. Sie fand oder findet damit außerhalb der öffentlichen Sphäre (die der männlichen Sphäre entspricht) statt. Diese uralte Einteilung wurde mit dem feministischen Slogan
„das Private ist politisch“
eigentlich schon lange gebrochen. Natürlich sind auch Vorgänge, die im Verborgenen bzw. Privaten stattfinden, politisch relevant. Diskussionen um häusliche Gewalt oder die Öffnung der Ehe für alle Geschlechter sind hier nur zwei Beispiele von vielen.
Wird das Internet in die Betrachtung einbezogen, erscheint die Aufteilung in Häuslichkeit / Öffentlichkeit gleich noch unzeitgemäßer. Solange wir Zugang zum Netz haben, können wir jederzeit und unabhängig von unserem Aufenthaltsort an Politik teilhaben; als Konsument*innen genauso wie beispielsweise als Aktivist*innen.
Für den Mainstreamjournalismus sind solche Fakten irrelevant, wenn es darum geht, Handarbeit und damit vielfach handarbeitende Frauen, zu kritisieren. Medien, die sonst auch gerne antifeministische Haltungen veröffentlichen, sehen im Handarbeiten plötzlich den Abgesang des Feminismus. Crafting sei
Hausfrauen-Kleinklein
, für das eine nicht besonders schlau sein müsse und für Frauen, die keine richtigen Jobs haben bzw. denen ihre Berufe zu anstrengend sind. Und dann möchten handarbeitende Frauen auch noch Aufmerksamkeit für das, was sie geschaffen haben!
Was sich hier als feministische Kritik verkauft, ist nichts Anderes als neoliberale Kackscheiße, angerührt mit Sexismus. Handarbeit wird als nicht anstrengend, nicht kompliziert und nicht
wertvoll
genug kritisiert – und nur was anstrengend ist, kann in diesem Verständnis von Arbeit wertvoll sein. Frauen dann auch noch vorzuwerfen, dass sie für sich, ihr Tun und ihr Denken Sichtbarkeit möchten, ist ein ganz alter
sexistischer Hut
. Dieses Bedürfnis wird bei Frauen fast immer negativ bewertet.
Handarbeit als un-feministisch zu bezeichnen, kann nur von Menschen kommen, die die Geschichte des Feminismus und Beispielsweise die
Riot Grrrls
und ihre DIY-Kultur als zentralen feministischen Grundstein nicht kennen.
Handarbeit ist immer das Vorzeigebeispiel, wenn es darum geht, angebliche „Häuslichkeit“ zu kritisieren. Wenn Menschen tagelang durch Tumblr scrollen oder eine Modelleisenbahn im Keller haben, gibt es keine Grundsatzdiskussionen über Alltagsflucht. Auch beim (oft Männern zugeschriebenen) „Basteln“ am Computer oder beim Heim- oder Handwerken setzt keine vergleichbare Kritik ein wie bei Handarbeit. Allein, dass im Deutschen Handwerk und Handarbeit begrifflich unterschieden wird, zeigt die Abgrenzung. Eine Kritik, die sich auf Handarbeit beschränkt und in der Handwerk ausgespart wird, ist letztlich vielfach schlichte Weiblichkeitsfeindlichkeit. Das zeigt sich auch darin, dass Cis-Männer, die das Stricken oder Häkeln für sich entdecken, öffentlich oft gefeiert oder gar mit medialer Aufmerksamkeit bedacht werden.
Was bei Kritik an Handarbeit oder Neuer Häuslichkeit im Allgemeinen ausbleibt: Kritik an dem System, das verursacht, dass Menschen aus dem Alltag ausbrechen und Pause machen möchten oder müssen. Meine Generation ist aufgewachsen mit Terrorwarnungen, Kriegen, Wirtschaftskrisen, der NSA, dem Klimawandel und Menschen auf der Flucht. Gleichzeitig sehen wir uns Turboabi, Bolognareform, prekären Arbeitsverhältnissen, Hartz IV und eben nicht zuletzt dem konservativen Backlash ausgesetzt. Der Kapitalismus, das Patriarchat, rassistische Gesellschaftsstrukturen usw. sind Schuld daran, dass Safe Spaces notwendig sind – besonders für Menschen, die nicht männlich, nicht aus der Mittelschicht, nicht hetero oder nicht weiß sind. Wenn diese dann ab und zu abends auf dem Sofa sitzen und eine Socke stricken, ist das kein Weltuntergang.
Bei Kritik an Neuer Häuslichkeit schwingt immer auch Kritik an Selbstverwirklichung mit. Da gibt es Menschen, die es wagen, ihre Freizeit für sich selbst zu beanspruchen. Was als Kritik getarnt ist, ist bloß die Angst, Menschen könnten ernsthaft aus der kapitalistischen Verwertungslogik ausbrechen und somit das System in Frage stellen. Schön wäre es! Aber wenn wir uns mal die Fakten betrachten, geht es letztlich nur um einen geringen Prozentsatz an Leuten, die wirklich aussteigen und der Gesellschaft den Rücken kehren. Bei den meisten geht es einfach nur um ein paar kurzzeitige Alltagsfluchten.
Ich halte die Kritik an der Handarbeit für ein Schreckgespenst und ich glaube, dass Kritik an Neuer Häuslichkeit nie ohne Kritik an der Gesellschaft vonstatten gehen kann. Kurzzeitige Alltagsflucht ist für diskriminierte Gruppen schlichtweg notwendig, um in der Gesellschft überhaupt bestehen zu können oder Kraft zu sammeln für weiteres politisches Engagement. Eskapismus und Aktivismus müssen kein Widerspruch sein. Handarbeit und DIY sind nur ein Nebenkriegsschauplatz. Wir müssen uns mit dem konservativen Backlash an ganz anderer Stelle beschäftigen – nämlich dort, wo er menschenfeindliche Ideen und Hass verbreitet.
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Im Frühling 2014 habe ich meinen Master gemacht, wenige Monate vor meinem 25. Geburtstag. Auf meinem Abschlusszeugnis steht eine 1 vor dem Komma. Seit meinen Großeltern bin ich die erste, die einen Studienabschluss hat und die erste von uns, die einen in Deutschland gemacht hat. Für sowas wie Stolz ist weder Zeit noch Raum. Ich arbeite schon seit dem Studium selbstständig, aber kann davon nicht leben und habe deswegen das zweifelhafte Vergnügen mit dem Jobcenter. Das ist nicht mein erstes Zusammentreffen mit Hartz IV, ich bin damit aufgewachsen.
Ich habe schon vor zwei Jahren darüber geschrieben, wie es ist,
als Tochter aus einer Hartz IV-Familie aufs Gymnasium und zur Uni zu gehen
. Am Ende meines Artikels schrieb ich damals, dass bei mir die Angst, nach dem Studium in Hartz IV zu fallen, vermutlich größer ist als bei anderen.
Hartz IV traumatisiert
. Menschen haben derzeit zwar Anrecht auf Existenz, aber nicht auf lebenswerte Existenz. Welche Folgen das Aufwachsen mit zu wenig Geld und unter staatlicher Überwachung hatte, kann ich an mir selbst sehr gut sehen: Armut macht krank. Ich suche erst seit Herbst einen Job, aber habe jetzt schon schlaflose Nächte und niedergeschlagene Tage, wie sonst oft Langzeitarbeitslose.
Der Gedanke, dass an mir ein Makel klebt, verfolgt mich. Expert*innen sprechen davon, dass Armut vererbt wird – was, wenn sie recht haben? “Einmal Hartz IV – immer Hartz IV”, mit diesem Satz wird Roland Merten, Professor für Sozialpädagogik, beim Deutschlandfunk zitiert. Die Familienverhältnisse, die hier beschrieben werden, haben nichts mit meinen zu tun. Ich bin gefördert und motiviert worden wo es nur ging und sehr liebevoll aufgewachsen. Ich möchte mich hier nicht von etwas abgrenzen, ich möchte aber erwähnen, wie einseitig das dargestellte Bild von “der Unterschicht” ist. Es wird viel über “Problemfamilien” geschrieben – aber wenig über die Probleme der Familien. Stattdessen dürfen wir in der FAZ lesen, dass Spitzenverdienende mit 10.000 € brutto im Monat sich nicht als reich empfinden und unter schlaflosen Nächten leiden, weil jemand ihren Fitnessraum ausräumen könnte. In bin weder hausrat- noch unfallversichert, falls die Waschmaschine meine Küche überfluten sollte, habe ich ein ausgewachsenes Problem.
Ich habe eine Kindheit in Armut verbracht und ja, es macht mich wütend, dass es Leute gibt, die darüber weinen, nicht zu wissen, wie sie ihr Geld ausgeben sollen. Und ja, ich bin neidisch, dass andere Menschen sich nicht erst eine neue Jeans kaufen, wenn die alte ein Loch hat. Weniger Privilegienblindheit bei denen, die mehr haben als nur ein knappes Auskommen, wäre wirklich wünschenswert. Wenn ich lese, dass gerade in Armut aufwachsenden Schüler*innen pauschal Bequemlichkeit unterstellt wird, packt mich die Wut. Dass wir alles erreichen können, wenn wir uns nur anstrengen, ist eine These, die sich schon längst als Lüge entpuppt hat. Was mir und ganz sicher vielen anderen in meiner Situation fehlt, ist nicht der Wille – es sind Netzwerke, Wissen über soziale Codes und positive Erfahrungen. Diskriminierungen aufgrund von Klasse, Hautfarbe und Geschlecht nehmen viel Raum ein in meinen Kindheitserinnerungen. Ich habe gelernt, dass ich mich nicht wehren kann, denn meine Erfahrungen haben keinen Wert, mein Wort hat kein Gewicht und im Zweifel sitze ich immer am kürzeren Hebel.
Ich musste schon als Schülerin in der Oberstufe regelmäßig zur Kreisverwaltung meiner Heimatstadt und nachweisen, dass es sich “lohnt”, dass ich das Abitur mache. Schwänzen und schlechte Noten waren verboten, denn dann hätte ich meine Eingliederungsvereinbarung nicht erfüllt und das Jobcenter hätte uns nahe gelegt, mich von der Schule zu nehmen. Den kleinen Durchhänger, den viele Jugendliche in dem Alter haben, konnte ich mir schlicht nicht leisten.
Mir fehlt jegliches Vertrauen in staatliche Institutionen. Bei jedem Brief, in dem meine Uni mich bloß auf den nächsten Blutspendetermin hinweisen wollte, befürchtete ich, meine Exmatrikulation in den Händen zu halten, weil das Rektorat sich nun entschieden habe, ich verdiene doch keinen Studienplatz. Wenn ich meine Steuererklärung mache, habe ich jedes Mal Angst, mir wird mein winziger Zuverdienst weggenommen, weil ich irgendeinen Paragraphen übersehen habe. Das hat zur Folge, dass ich Expertin im Verstehen und Ausfüllen jeglicher Formulare, sehr ordentlich, überorganisiert und überpünktlich bin. Was andere mir wahlweise als tolle Jobqualifikationen oder Strebsamkeit auslegen, ist in Wahrheit der tiefsitzende Druck, nicht gut genug zu sein und Fehler zu machen, die weitreichende Konsequenzen zu haben. Ich weiß, dass ich immer auf das Schlimmste vorbereitet sein muss und auf keinen Fall den Eindruck erwecken darf, ich sei faul. Während meine Mitschüler*innen beim Schulaustausch waren, habe ich Nachhilfe gegeben und das verdiente Geld in Bücher investiert. Meine Bildung war mein Kapital und die einzige Möglichkeit an noch mehr Bildung zu kommen.
Ich habe keine Ahnung, wie andere Leute berufliche Netzwerke knüpfen und wie ich mich auf Veranstaltungen verhalten soll, auf denen Leute mit Sektglas in der Hand herumstehen. Es ist mir auch peinlich, das zuzugeben. Ich hab ja nicht mal was anzuziehen für solche Anlässe. Ein Symptom des Imposter-Syndroms , unter dem besonders Frauen zu leiden haben, ist die Angst, dass andere erkennen, man selbst könne im Grunde nichts und habe sich Erfolge nur erschlichen. Wenn sich zu dieser Angst dann die Erfahrung Armut gesellt, fühlt eine*r sich schnell überall wie ein Fremdkörper. Die Selbstverständlichkeit, mit der andere ihren Teil vom Kuchen fordern, ist mir völlig fremd. Vermutlich habe ich hier am meisten Nachholbedarf, denn mir stand noch nie mehr zu als ein Minimum. Ich habe nie gelernt, mein Können als solches zu erkennen und mich zu verkaufen. Meine Vorstellungen von Luxus sind eine 10er-Karte fürs Schwimmbad und ein zweites Paar Sommerschuhe. Nicht die besten Voraussetzungen für Gehaltsverhandlungen.
Ich bleibe zurückhaltend und fordere nichts, denn die Angst, das Wenige, was ich zum Überleben habe, auch noch zu verlieren, ist groß. Wenn du arm bist, zerrinnt dir das Geld zwischen den Fingern, aber auch Menschen wenden sich von dir ab, wenn du am sozialen Geschehen nicht teilnehmen kannst. Ich habe gelernt, mich anzupassen, mit den kleinsten Mitteln dafür zu sorgen, andere meine Armut nicht spüren zu lassen, weil anderen meine Armut unangenehm ist und ich möchte nicht, dass Leute sich meinetwegen schlecht fühlen. Ich kann mich durchschlagen und auch wenn ich nicht weiß, wovon ich meinen Kühlschrank füllen soll, allen das Gefühl geben, dass alles in bester Ordnung ist und es kein Problem ist, zum Geburtstagsgeschenk der Freundin was beizutragen.
Ich bleibe cool. Ich kann nicht ständig zusammenbrechen.
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Tuğçe Albayrak starb an ihrem 23. Geburtstag, weil sie eingriff, als zwei Mädchen von Typen belästigt wurden und in der Folge selbst angegriffen wurde. Ihr Tod wird
weltweit betrauert
und die Respektsbekundungen sind zu recht groß.
Tuğçe griff in einer Situation ein, die auch für sie selbst Gefahr bedeutete – nicht immer ist Eingreifen so risikoreich,
doch immer ist Eingreifen wichtig
. Die Medien nehmen das zum Anlass, dem Thema Zivilcourage wieder verstärkte Bedeutung zuzurechnen.
Doch wenn wir den Tod von Tuğçe nur im Zusammenhang mit Zivilcourage betrachten, bleibt uns ein wichtiges Problem verborgen: das der strukturellen Gewalt gegen Frauen aufgrund von
männlichem Anspruchsdenken
. Zu lesen ist wieder von “Schlägertypen”, “jugendlichen Straftätern” oder auch “Ausländergewalt” (die dann gegen Tuğçes Migrationshintergrund aufgerechnet wird). Nicht benannt wird
misogyne Gewalt
: Die Person, die für den Tod der jungen Studentin verantwortlich ist, hat mit einigen anderen zusammen zuvor Mädchen auf einer öffentlichen Toilette belästigt.
Jungs und Männer, die Mädchen und Frauen belästigen,
sind Alltag
. Die patriarchale Struktur unserer Gesellschaft ermöglicht ihnen das und sie ermöglicht auch, dass dem Thema viel zu wenig Bedeutung beikommt. Problematisieren zu müssen, dass Übergriffe und Übergriffigkeit nicht auf böse, arme, nicht-weiße Kriminelle abgeschoben werden können, würde die Gesellschaft als Ganzes betreffen. Ein strukturelles Problem einzugestehen, zu beleuchten und Konsequenzen daraus zu ziehen, täte weh. Es wäre nämlich nicht damit getan, sich auf Einzelfälle zu stürzen.
Wer in den letzten Wochen die
verstärkte Diskussion
um Pick Up verfolgt hat, konnte auch hier genau das beobachten: Julien Blanc, der aufgrund gewaltverherrlichender Videos sehr begründeten Protest auslöste, wurde zum Vertreter einer ganzen Bewegung. Doch auch ohne den Aufruf zu körperlicher Gewalt können viele der Techniken von Pick Up “Artists” als gewaltsam bezeichnet werden. Rücksichtslos wird sich über den Willen von Frauen und von ihnen gesetzte Grenzen hinweg gesetzt, um sie ins Bett zu kriegen. Was hier gelehrt wird, legt den Grundstein für gewaltvolle Beziehungen und sexualisierte Übergriffe. Männer, die Pick Up betreiben, haben das Ziel, besonders viele Frauen in kurzer Zeit ins Bett zu kriegen. Sie gehen davon aus, dass Frauen viel zu selbstbewusst geworden seien und Männer dahinter zurück stehen. In ihren Augen steht ihnen Sex mit Frauen zu, Frauen sind aber so bösartig, dass sie ihnen den nicht gönnen und vorenthalten. Allein diese sexistische Anspruchshaltung und der Heterozentrismus, der damit einher geht, sind Grund, sich aufzuregen. Keine Frau schuldet einem Mann Aufmerksamkeit, Sex oder gar Liebe – und sei er noch so ein
Nice Guy
.
Pick Up ist Industrie gewordene Manifestation der Rape Culture, in der wir leben. Der Begriff Rape Culture meint im Wesentlichen, dass in einer Gesellschaft sexualisierte Gewalt oft vorkommt, aber von vielen Menschen nicht als solche benannt oder gar erkannt wird. Rape Culture zeigt sich in den Vergewaltigungsmythen, die letztlich immer den Opfern die Schuld zuschieben, und in der Verharmlosung von Übergriffigkeit. Täter werden dadurch geschützt und Taten herunter gespielt.
Letztlich bleibt es dabei, dass einzelne Menschen als mutig gelten und posthum ausgezeichnet werden, wenn sie dafür sorgen (möchten), dass Frauen unbelästigt durchs Leben gehen. Wer ein sicheres Leben für sich und andere möchte, darf nicht mutig sein müssen. Sogar Bundespräsident Gauck äußerte sich
zu Tuğçes Zivilcourage und ihrem traurigen Tod
, eine Auseinandersetzung mit Gewalt gegen Frauen forderte er hingegen nicht.
Wir müssen darüber reden,
welche Strukturen es sind, die ein Klima der Gewalt ermöglichen
, nicht so sehr darüber, wie dem im Einzelfall begegnet werden kann. Vor dem Hintergrund, dass Street Harassment und Pick Up in unserer Gesellschaft als „normal“ gelten, liegt die Vermutung nahe, dass es sich um patriarchale Gewaltstrukturen handelt. Natürlich wünschen wir uns eine Gesellschaft, in der Menschen sich mutig Diskriminierung und Gewalt entgegenstellen. Doch vor allem wünschen wir uns eine Gesellschaft, die Gewaltstrukturen erkennt und das Problem an der Wurzel packt.
EDIT: @dieryane (via @samiaalthar) wies auf Twitter darauf hin, dass es einen guten Artikel u.a. zum Thema Rassismus bezogen auf den Fall Tuğçe gibt, den ich hier also ergänzen will.
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Frauenfeindliche Texte und Hate Speech finden sich im Internet zu Hauf – Beleidigungen, Todesdrohungen, Vergewaltigungsphantasien, Stalking. Und immer wieder gibt es Leute, die Gewalt nicht nur androhen, sondern auch tatsächlich ausüben. Knochenweib schrieb letztens bereits über hegemoniale Männlichkeit und das System hinter Gewalt gegen Frauen.
Am 23. Mai ereigneten sich die Morde durch den 22-jährigen Elliot Rodger. Er hatte erst seine Mitbewohner erstochen und dann mit einer Waffe vor dem Haus einer Studentinnenverbindung zwei Frauen und einen Mann erschossen, mehrere Menschen wurden verletzt. Rodger hatte zuvor in mehreren Youtube-Videos seine Taten angekündigt und sich zu seinen Motiven geäußert.
„Ihr Mädchen habt euch nie für mich interessiert. Ich weiß nicht warum. Ich werde euch alle dafür bestrafen. Ich bin der perfekte Mann, und ihr schmeißt euch trotzdem an diese ganzen anderen dämlichen Typen ran. (…) Am Tag meiner Rache werde ich ins Gebäude der heißesten Studentinnenverbindungen meiner Uni gehen und ich werde jede einzelne blonde, verwöhnte Schlampe abschlachten, die ich dort sehe.“
Zitat aus seinem Video , Übersetzung von Juliane auf kleinerdrei.org
Rodger wollte Frauen dafür leiden sehen, dass sie ihn ablehnten. Er glaubte, er habe ein Recht auf Zuwendung, Liebe und Sex, aber weil keine Frau dem nachkommen wollten, tötete Rodger – aus Frauenhass und aus Hass auf Männer, die einen „Status“ erreicht hatten, der in seinen Augen ihm zustand.
Ein ähnlicher Fall dieser Art ist Anders Breivik, der 2011 im Regierungsviertel in Oslo eine Bombe zündete und dann auf der Insel Utøya mehrere Menschen erschoss. Breivik bekennt sich zu rechten Ideologien und ganz besonders zum Hass auf den Islam. Er hat ebenfalls ein Manifest hinterlassen und kurz vor seiner Tat ein Video mit seinen Thesen ins Netz gestellt.
Bei Breivik wird sehr wenig darüber gesprochen, dass er ebenso wie den Islam auch den Feminismus verabscheute: Frauen würden die Islamisierung befürworten und da der Feminismus die Machtbalance zwischen den Geschlechtern aus ihrer natürlichen Ordnung gebracht habe, fördere der Feminismus die Zerstörung der christlich-europäischen Gesellschaft.
„Das Schicksal der europäischen Zivilisation hängt davon ab, wie standhaft europäische Männer dem politisch korrekten Feminismus widerstehen können.“
Zitat aus dem Guardian , Übersetzung der Autorin
Das Heraufbeschwören der politischen Korrektheit als Feindbild von Maskulisten ist nichts Neues. Nicht ohne Grund ist in der Studie der Böll-Stiftung zur antifeministischen Männerrechtsbewegung zu lesen, dass die rechtspopulistische Strömung des Antifeminismus sich kaum von Breivik distanziert. Breivik tötete 77 Menschen und es gibt Aussagen dazu, dass er immer zuerst die Mädchen/Frauen anvisiert habe.
Aus dem Jahr 1989 ist das Montréal Massaker bekannt, bei dem der 25-jährige Marc Lépin in einer kanadischen Hochschule 14 Frauen tötete sowie zehn Frauen und vier Männer verletzte. Lépin hatte zuvor einen Abschiedsbrief geschrieben:
„Zuerst erwähnte er, dass er dies aus politischen Gründen tut. Er sagte, Feministinnen hätten sein Leben ruiniert und dass er nie glücklich war im Leben, besonders in den letzten sieben Jahren (…)“
Zitat aus der Pressekonferenz der Polizei , Übersetzung der Autorin
Genau wie aktuell Rodger gab Lépin Frauen die Schuld an seinem unglücklichen Leben und genau wie Rodger und Breivik nannte er dies als Motiv für seine Taten. Lépin tötete in der Folge ganz bewusst Frauen: Er betrat einen Klassenraum der Hochschule und schickt die männlichen Schüler hinaus, um mit den Schülerinnen alleine zu bleiben. Er erklärte ihnen, warum er sie tötete:
„Ich bekämpfe den Feminismus.“
Zitat aus Globalnews , Übersetzung der Autorin
Nach der Tat gab es u.a. eine Debatte um Gewalt in den Medien – quasi das Äquivalent um „Killerspiel“-Diskussionen, die heutzutage nach solchen Taten geführt werden. Es setzten aber auch feministische Proteste ein, die für die Anerkennung von Gewalt gegen Frauen als eigenständiges Problem kämpften. Antifeministische Gegenproteste gaben wiederum „dem Feminismus“ die Schuld an der Tat Lépins. Die These, dass Frauen selbst Schuld sind, wenn sie feministische Thesen vertreten und dafür Gewalt erfahren, sind aus Netzdiskussionen mit Maskulisten hinlänglich bekannt. Lépin gilt unter Antifeministen als Held.
Ein weiteres Beispiel ist der 17-jährige Tim Kretschmer, der 2009 als „Amokläufer von Winnenden“ bekannt wurde. Über seine Morde wurde monatelang berichtet und zu jedem Jahrestag wird das Thema medial wieder aufgewärmt.
Was wenig bekannt ist: Kretschmer tötete an seiner alten Schule zwölf Menschen – elf davon waren weiblich, also Lehrerinnen oder Schülerinnen. Die feministische Sprachwissenschaftlerin Luise Pusch war eine derjenigen, die darauf
hinwies,
dass Kretschmer seine Opfer mit gezielte Kopfschüssen tötete und nicht etwa einfach wild um sich schoss. Die Opfer waren demnach ausgewählt und es handelt sich nicht um einen Zufall, dass das Geschlechterverhältnis so eindeutig ausfällt.
Der einzige Versuch, Frauenhass als Tatmotiv zu verhandeln, der es in die Medien schaffte, war leider sehr unseriös und an den Haaren herbeigezogen. Die Pornos, die auf Kretschmers Computer gefunden wurden, sollten belegen, dass er masochistische Sexphantasien gehabt habe, dass er sich für diese Lust geschämt habe und sich deswegen an Frauen rächen wollte. Nach
diesem Ansatz
gab es keinerlei weitere Diskussion zu dem Thema, Kretschmer löste vielmehr eine leidige Diskussion über „Killerspiele“, aber glücklicherweise auch über Waffenbesitz, aus.
Mindestens die Aussagen von Elliot Rodger waren schon vor seiner Tat online einzusehen. Sie sind von Frauenhass durchsetzt und als Hate Speech einzuordnen. Die Polizei wurde auf seine Hasstiraden aufmerksam und besuchte Rodger zuhause. Sie stufte ihn trotz seiner gefährlichen Aussagen als ungefährlich ein und nahm die beschriebene Gewalt an Frauen vermutlich nicht als ernst zu nehmende Drohungen wahr.
Wenige Tage später wurde Rodger zum Mörder.
Auch in Deutschland wird Hate Speech kaum als Problem erkannt. „Dann schreib doch nichts mehr ins Internet, dann bekommst du auch nicht solche Antworten“, sind die Reaktionen von Menschen, die Einblick in die Bedrohungen bekommen, die Feministinnen ereilen. Bei Hate Speech wird genauso Victim Blaming betrieben, wie bei anderer Gewalt oder sexualisierten Übergriffen.
Und selbst wenn es zu spät ist, werden die Zusammenhänge oft nicht erkannt. Während Taten, deren Täter*innen als muslimisch identifiziert werden oder als Spieler*innen bestimmter Computerspiele gelten, immer zu Grundsatzdiskussionen führen, ist das beim Motiv Frauenhass nicht der Fall. Die Tatsache, dass es Morde gibt, die von Männern verübt werden, die zuvor oder während der Tat durch Hate Speech und Frauenhass auffällig wurden, findet kaum bis gar nicht Eingang in gesellschaftliche Diskussionen.
Wann sprechen wir denn endlich über misogynen Terror?
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Wer schon mal etwas zu Feminismus oder Anti-Rassismus o.ä. auf irgendeine Plattform im Internet geschrieben hat, lernt meistens sehr schnell Hasskommentare kennen. Bedrohungen und Beschimpfungen im Netz sind genauso real wie auf der Straße. Sie treffen dich 24 Stunden am Tag, unerwartet und auf unterschiedlichen Kanälen. Sie ziehen Energie von deinen eigentlichen Projekten ab, treffen dich persönlich und ziehen dich runter. Ziel solcher Hasskommentare ist immer, die angesprochene Person zu verunsichern und im besten Fall zum Schweigen zu bringen. Sich frei im Internet zu bewegen, wenn dort Menschen lauern, die dir etwas Schlechtes wollen, ist nicht mehr möglich. Hasskommentare beeinflussen dein Schreiben und dein Denken.
Zudem werden sie oft vom Umfeld (besonders dem „Offline-Umfeld“) nicht ernst genommen. Die Situation zu beschreiben wird derzeit zusätzlich dadurch erschwert, dass die Mittel der Maskulist*innen immer perfider werden. Mittlerweile werden auch detailliert ausgearbeitete Fake-Identitäten dazu benutzt, die Bedrohungen von Feminist*innen und die Hetzjagden auf sie zu verstärken.
Das Ziel der Bedrohenden ist, uns zum Schweigen zu bringen. Wenn wir uns das nicht gefallen lassen wollen, muss jede*r von uns den für sie*ihn richtigen Weg gehen, mit so wenig Schaden wie möglich aus der Sache raus zu kommen bzw. den Aktivismus weiter betreiben zu können. Wichtig ist, dass es natürlich nicht den einen richtigen Weg gibt. Ein Burnout ist immer ein zu großes Opfer und schadet nicht nur dir, sondern auch deinem Anliegen.
Hate Speech ist unsichtbar und wie mein Vortrag auf der Open Mind im Sommer gezeigt hat, ist den Bedrohenden auch viel daran gelegen, dass dies so bleibt. Um aber etwas gegen den Hass unternehmen zu können, ist es wichtig, dass Nicht-Betroffene verstehen, um was es geht und man ihnen einen Einblick ermöglicht. Es hat sich hier bewährt, nicht auf der entsprechenden Plattform selbst (oder im Netz an sich) als Betroffene mit denjenigen zu diskutieren, die dich beleidigen.
Es erscheint mir sinnvoll, erst zu schauen, welche Verbündete wir haben oder um welche wir uns bemühen sollten. Davon ausgehend gehe ich dann auf Strategien ein, die sich bereits bewährt haben oder sinnvolle Ansatzpunkte sein könnten.
1. politische Lösungen:
2. technische Lösungen:
3. Self Care:
4. Bildet Banden!
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So ging es mir auch mit „Blurred Lines“ von Robin Thicke. Ich hörte es, während der Fernseher lief und ich eigentlich was anderes tat. Mir gefiel die Melodie – sie ging ins Ohr und blieb auch lange dort. Auf den Text habe ich erstmal gar nicht geachtet (meistens ein Fehler…). Uff! Wer auf den Text achtet und sich das zugehörige Musikvideo anschauet, welches es sogar noch in einer Nude Version gibt, der_dem vergeht jegliche Sommerlaune.
Der Klassiker: Junger Mann im feinen Zwirn versammelt eine Horde (halb)nackter und normschöner Frauen um sich und lässt sich von ihnen anhimmeln. Dabei trällert er dann, wie genau er wisse, was Frauen wollen und brauchen.
Objektifizierung von Frauen und Rape Culture – genau das, was ich nicht lesen, hören oder sehen will. Und zum Glück bin ich da nicht nur nicht alleine mit meiner Meinung – es gibt Menschen, die sich die Mühe gemacht haben, aus dem Song noch was richtig Gutes zu zaubern.
EDIT: Helga hat inzwischen auch zum Thema gebloggt und noch einige nette Videos gefunden.
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Irgendwann im April kam diese E-Mail von Anne , die mich kreidebleich werden ließ: Der #Aufschrei sei für den Grimme Online Award nominiert und Nicole , Anne und ich sollten als Initiatorinnen zur Pressekonferenz und später zur Preisverleihung gehen. Mich hat das nachhaltig aufgerüttelt. Nicht, weil ich mir dringend eine Trophäe ins Regal stellen oder eine Urkunde an die Wand nageln wollte, sondern weil das alles plötzlich so real und anerkannt wurde. Da sind Menschen, die genau wie wir, die Wichtigkeit des #Aufschrei erkannt haben und das würdigen wollen.
Kathy hat in den letzten Wochen öfter das Thomas-Thomas-Theorem zitiert: „If men define situations as real, they are real in their consequences“ und dieser Satz geht mir seitdem nicht mehr aus dem Kopf. „Men“ meint in diesem Fall (hoffentlich?) „Menschen“, aber natürlich kann man sie auch einfach als „Männer“ ins Deutsche übersetzen und gerade wenn man den #Aufschrei betrachtet, scheint das immer noch die Sicht der Gesellschaft zu sein. Tausende Frauen sprechen teils zum ersten Mal aus, was ihnen passiert ist und weiterhin passiert. Statt dies hinzunehmen, wird an der Glaubwürdigkeit der Betroffenen gezweifelt und vom Thema abgelenkt – oft von Männern oder anderen Menschen, die das Glück haben, ein sichereres Leben zu führen: Der #Aufschrei sei erfunden. Die Menschen hinter den Tweets gebe es gar nicht. Es seien Accounts aus dem Boden gestampft und Follower*innen gekauft worden, damit die Sache glaubwürdiger erscheine. Es handle sich um eine breit angelegte Medienkampagne voller Lügen. Das alles passiere ja nur in diesem Neuland und habe in der Realität nichts bewegt.
Und was ist nun geschehen? Der #Aufschrei hat einen Grimme Online Award gewonnen. Nicht nur wir drei, sondern alle, die sich konstruktiv beteiligt haben. Der erste männliche Preispate des Abends, Jan Hofer, sprach für uns die Begründung der Jury und übergab den Preis. Wenn „Mr. Tagesschau“ auf einer Bühne steht und sagt, dass der #Aufschrei real und wichtig ist, dann ist das so. Der #Aufschrei hat aber gezeigt, dass hinter den Zahlen und Daten, die es zu Sexismus und sexualisierter Gewalt in Deutschland und der Welt schon lange gibt, echte Geschichten stehen. Das Problem Sexismus hat nun nicht nur ein Gesicht bekommen, sondern viele und wurde dadurch zugänglicher bzw. nachvollziehbarer.
Deswegen ist es letztlich auch so wichtig, dass wir alle uns
unsere Urkunden an die Wand nageln
. Wir sprechen in Deutschland nun über Seximus – nicht immer so differenziert wie es möglich wäre, aber wir sprechen drüber und wir können daran arbeiten, die Debatte weiter zu führen, zu vertiefen und als Gesellschaft Lösungen zu finden. Nicht nur unter Betroffenen, sondern gesamtgesellschaftlich. Das ist wichtig und richtig so. Und manchmal braucht es eben einen Mann mit Tagesschaustimme, um das deutlich zu machen – auch uns selbst.
Natürlich wird es immer Leute geben, die sich von ihrer These vom Untergang des Abendlandes nicht abbringen lassen, die weiter herumpöbeln, dass der #Aufschrei keinen Preis verdient habe, die Debatte überzogen sei und auf der Bühne nur ein paar Frauen in blöden Klamotten herumgestanden haben. Aber das ist egal. Was passiert ist, kann uns niemand nehmen. „Die Kritik und die Anfeindungen beinträchtigen die Relevanz der Debatte nicht“, hieß es im Einspieler der Preisverleihung.
Ich gratuliere uns allen <3
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Am Freitag war ich als Vertreterin des #Aufschrei nach München geladen, um dort auf einem Podium über den Film
„Miss Representation“
zu sprechen. Es sollte um Frauen in Medien gehen und in dem Zusammenhang natürlich auch um die Sexismus-Debatte.
Ich erzählte vom #Aufschrei, wie er entstanden ist und vom Internet in die klassischen Medien rüberschwappte. Ich berichtete auch von den zahlreichen Hassmails, Tweets und Blogeinträgen, mit denen wir Protagonistinnen zu kämpfen haben. Beschimpfungen, Mord- und Vergewaltigungsdrohungen sind Dimensionen, die sich viele nicht vorstellen können.
Auf und nach dem Podium gab es viel Lob für den Hashtag, aber eben auch für uns als diejenigen, die dafür ihr Gesicht hinhalten. Ich habe selten so viel ehrliche Dankbarkeit und Durchhalteparolen auf einmal gehört. Ich war schlichtweg gerührt. Eine der Veranstalterinnen ist Medienanwältin und reichte mir ihre Karte: „Wenn ihr mal Hilfe braucht, hier hast du meine Nummer. Ich mache das für euch – aus Solidarität!“ Einfach mal gesagt bekommen, dass das, was wir tun, gut ist. Dass wir auf Hilfe zurückgreifen können und dass man sich
solidarisch
mit uns zeigt.
Wir alle hatten noch keine Zeit zu verarbeiten, was da eigentlich seit Januar passiert ist. Häufig kann gar nicht mehr aufnehmen, was geschieht. Ich mache einfach einen Schritt nach dem nächsten und funktioniere.
Ortswechsel helfen unheimlich. Zuhören, was die anderen von uns auf Podien erzählen, selbst erzählen. Und dann ab und zu einfach mal nur geradeaus durch die nächtliche Stadt gehen. Weinen.
Dann ist man plötzlich auch wieder in der Lage zu sehen, dass da viele Menschen sind, die uns Katzenbilder twittern, auf Termine begleiten und die Hand halten und ermutigen. Zusammenhalt, einander zuhören und Hilfestellung geben sind für mich generell wichtige Punkte in der #Aufschrei-Debatte (nicht nur in Bezug auf sexuelle Übergriffe, sondern generell).
Deswegen an dieser Stelle endlich mal ein großer Dank an diejenigen, die immer da sind – wir sehen euch, auch wenn wir euch hin und wieder nicht richtig wahrnehmen können. Ich seid so unheimlich wichtig für uns <3
Ebenso dankbar bin ich für den Zusammenhalt unter uns #Aufschrei-Frauen, die wir täglich in Kontakt stehen, uns trösten, beistehen und beraten – danke für alles <3
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