kultur – Der k_eine Unterschied Wir erobern die Nacht zurück! Wed, 15 Jul 2015 12:21:28 +0000 de-DE hourly 1 https://wordpress.org/?v=4.6.2 /wordpress/wp-content/uploads/2014/11/favicon_fb512-54735915_site_icon-32x32.png kultur – Der k_eine Unterschied 32 32 Bitte recht natürlich! /bitte-recht-natuerlich/ /bitte-recht-natuerlich/#comments Fri, 10 Jul 2015 18:34:26 +0000 /?p=1658 Continue reading Bitte recht natürlich! ]]> strawberries_sml

Immer wieder höre ich in Diskussionen irgendwo im Gebiet Feminismus das Argument: “Das ist doch nicht natürlich!” Oder, in der die eigene Argumentationslinie stützenden Variante: “Das ist eben natürlich!” Gerade neulich bin ich dem Argument wieder begegnet, als es ums Stillen ging: Stillen, ja, das ist natürlich! Und damit gut. Und Flaschennahrung ist unnatürlich. Und somit schlecht.
Interessant ist es schon, dieses Argument der Natürlichkeit. Denn wir als menschliche Spezies sind eigentlich nicht unbedingt für unsere Nähe zur Natur bekannt, eher das Gegenteil ist der Fall: Wir grenzen uns gerade durch unsere zivilisatorischen Errungenschaften von der Tierwelt ab.

Denken wir das fertig

Aber lassen wir das Argument zu: Natürlichkeit ist Unnatürlichkeit vorzuziehen. Wenn wir diesen Schritt machen, müssen wir allerdings auch betrachten, welche anderen Bereiche von unnatürlichen Veränderungen berührt sind.
Beginnen wir mit den vergleichsweise modernen Erfolgen unserer Zivilisation: Wir müssten ein Leben ohne Strom führen, ohne fließendes Wasser und ohne moderne Medizin. Antibiotika zählen dazu ebenso wie moderne Operationen , von Zahnersatz über die Entfernung der Galle bis hin zum Kaiserschnitt. Und wenn wir schon dabei sind: Zahnpflege generell ist ebenfalls eine vergleichsweise neumodische Erfindung , die wir keinesfalls als natürlich einordnen können.
Selbstverständlich müssten wir auch unsere Ernährung natürlicher gestalten. Ich spreche hier nicht von dieser Paläo-Diät, die sich gern an eingeflogenen exotischen Früchten (Avocados, anyone?), durch Kreuzung und Selektion optimiertem Gemüse oder gar Fleisch bedient. Nein, ich spreche davon, was jeder von uns als einzelner Mensch, ganz ohne unnatürliche Zivilisation, Ackerbau oder Jagdgemeinschaft an lokal vorhandenen Dingen essen kann. Da bleibt nicht viel übrig. Nicht umsonst betrug die durchschnittliche Lebenserwartung im Paläolithikum magere 33 Jahre , bevor sie vermutlich dank von Vieh übertragenen Krankheiten, Mord und Totschlag nach der neolithischen Revolution auf nur noch 20 Jahre sank.
Und dabei lebte der Mensch im Neolithikum bereits keineswegs mehr ganz natürlich. Schon hier existierten zivilisatorische Strukturen, Werkzeuge, ach, und unnatürliche Sprache.
Teufelszeug.

Wie natürlich ist Heteronormativität?

Auch in Sachen sexueller Identität und Orientierung erfreut sich das Natürlichkeitsargument großer Beliebtheit: Genau eine Paarung wird als “natürlich” proklamiert, die monogame Verbindung zwischen einem Cis-Mann und einer Cis-Frau. Aber wie natürlich ist diese Natürlichkeit, wenn wir einmal genauer hinschauen? Es gibt massenhafte Belege für Homo- und Bisexualität bei Tieren, so dass ich an dieser Stelle auf einige Überblicksartikel zu dem Thema verweisen möchte. Laut Wikipedia ist Homosexualität bei rund 1500 Tierarten nachgewiesen. Und was ist natürlicher, als das natürliche Verhalten natürlicher Tiere in der Natur?
Und auch unsere traditionellen Geschlechterrollen, die einige Menschen bereitwillig als natürlich voraussetzen, wackeln stark. Denn bei genauer Betrachtung schält sich heraus, dass die historische Zuweisung von Menschen zu Geschlechterrollen an sich nicht so simpel ist , wie manche Historiker*innen und Archäolog*innen das in der Vergangenheit gern dargestellt haben.

Ein anderer Argumentationszweig befasst sich mit der Natürlichkeit von Sex zum Zweck der Fortpflanzung. Natürlich ist demnach, was Kinder zeugen kann.
Interessanterweise höre ich dieses Argument oft von sexuell aktiven Heterosexuellen, bei denen ich davon ausgehe, dass ihre Kinderlosigkeit bewusst herbeigeführt ist, sprich: auf unnatürlichen Verhütungsmitteln basiert. Sex, der allein dem Spaß dient statt unserer Fortpflanzung, ist in logischer Konsequenz dieses Arguments unnatürlich. Genau wie Partner*innenschaften von Menschen, die keine Kinder zeugen können. Heißt das, dass unfruchtbare Menschen nur unnatürlichen Sex haben können? Und dürfen sie Sex haben, wenn er doch keine Kinder hervorbringen kann?
Und wie sieht es bei Sex im Alter aus, kann der noch als natürlich gelten, wenn aus dem Geschlechtsakt keine Kinder entspringen können?

Natürlichkeit als Ergebnis von Interpretation

Wenn wir hier noch einen Schritt weiter denken, stoßen wir auf die nächste Frage: Wie natürlich kann unsere binäre Geschlechtszuweisung überhaupt sein, wenn es eine Vielzahl von chromosomalen, gonadalen, hormonellen oder anatomischen Merkmalen gibt, entlang derer wir Geschlecht erst definieren müssen? Wie viele Geschlechter bekommen wir, wenn wir auch nur einige dieser Faktoren durchvariieren ? Erweitern wir dies noch um den ethnologischen Blick auf Kulturen , die selbstverständlich mehr als zwei Geschlechter kennen oder andere Zuordnungen zu Geschlechtern leben, stellt sich schnell die Frage, ob wir durch die Masse der heteronormativen, binärgeschlechtlichen Darstellung in unserem Kulturkreis zwangsläufig von Natürlichkeit sprechen dürfen.

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Was bleibt also übrig von der heraufbeschworenen Natürlichkeit? Wenn wir konsequent sind: Nichts. Ich kann mir nicht vorstellen, dass Menschen, die “natürliche Geschlechterrollen”, “natürliche Sexualität” oder “natürliche Babyernährung” fordern, Natürlichkeit in der letzten Konsequenz wollen würden.
Womit das Argument beliebig wird: Wenn jede*r frei definieren kann, was natürlich ist und was nicht, haben wir es nicht mehr mit einem Argument zu tun, sondern bestenfalls mit einer polemischen Floskel, die dann verwendet wird, wenn gerade ein Totschlagargument fehlt.

Ich für meinen Teil lasse mein Verhalten nicht in den Kategorien “natürlich vs. unnatürlich” bewerten. Ihr seht ja, wo das hinführt!

tl;dr: Bei “Natürlichkeit” handelt es sich um ein Pseudoargument, das die Nutzenden so verwenden, wie es ihnen in den Kram passt. Es ist ungültig.

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DIY als emanzipatorische Praxis /diy-als-emanzipatorische-praxis/ /diy-als-emanzipatorische-praxis/#comments Thu, 04 Jun 2015 09:01:11 +0000 /?p=1573 Continue reading DIY als emanzipatorische Praxis ]]> Monster Anfang Mai habe ich auf der republica einen Vortrag zu Feminismus und Handarbeit gehalten. Für diejenigen, die nicht dabei sein konnten, werde ich das Thema hier noch einmal in zwei Blogartikeln zusammenfassen, dies ist der zweite, den ersten könnt ihr hier nachlesen. Es gibt den ganzen Vortrag auch als Podcast zum Nachhören.
In diesem Text stelle ich u.a. einige emanzipatorische Handarbeitsprojekte vor. Es handelt sich um eine subjektive und unvollständige Auswahl – falls ihr noch Tipps habt, könnt ihr diese gerne in den Kommentaren ergänzen.

2007 gründete sich die Crafting-Community Ravelry , in der mittlerweile über 5 Millionen User*innen angemeldet sind und in eigenen Profilen ihre Strick-, Häkel- oder Spinnprojekte zeigen, in Foren oder thematischen Gruppen diskutieren oder die Muster- und Materialdatenbanken nutzen. Dass sich dieses große Netzwerk nicht außerhalb emanzipatorischer Diskurse bewegt, zeigt sich nicht nur in der großen Zahl an feministischen und queeren Diskussionsgruppen, sondern auch in der Firmenpolitik der Betreiber*innen: Hate Speech ist in den Community Guidelines explizit verboten und mit Konsequenzen verbunden – davon könnten sich andere Plattformen einiges abschauen.

Neben solchen sozialen Netzwerken und Foren finden sich im Netz auch zahlreiche Blogs zum Thema Handarbeit. Warum schreiben Menschen über Handarbeit und – viel wichtiger – warum lesen andere diese Artikel? Die amerikanische Geschlechterwissenschaftlerin Caroline Porter schrieb einen Aufsatz ( pdf ) zu Blogs von Frauen, die von Haushalt, Familie und auch Handarbeit handeln. Sie führt die Vorteile auf, die es hat, dass Frauen im Internet publizieren können: Ihre Blogs bekommen Aufmerksamkeit, dienen als Zuverdienst und vor allem zur Vernetzung und um auf neue Ideen und neues Wissen zu stoßen. Das Schreiben und Veröffentlichen an sich kann als emanzipatorischer Akt gesehen werden, denn als weiblich gelesene Themen schaffen es selten in den medialen Diskurs des Mainstreams. Das hat natürlich auch mit der mangelnden Diversität in Redaktionen zu tun.
Blogs sind die Neue Öffentlichkeit und DIY-Blogs widersprechen somit dem Konzept von Neuer Häuslichkeit, den Handarbeit findet nicht mehr nur im Privaten statt. Handarbeit mit Häuslichkeit gleichzusetzen, trifft also den Kern der Sache nicht.

Was aus emanzipatorischer Sicht bei Handarbeitsblogs jedoch auch beachtet werden muss: Blogs, die Aufmerksamkeit bekommen, haben Privilegien inne, die natürlich auch wieder Ausschlüsse produzieren. Die „großen“ Crafting-Blogs und -Netzwerke, die dauernd verlinkt und empfohlen werden, reproduzieren leider vielfach das übliche Bild der Gesellschaft: Die Leute sind hetero, weiß, gehören zur Mittelschicht und sind „gesund“ (und wenn sie richtig Aufmerksamkeit kriegen wollen sind sie männlich). Queer-feministische Kritik muss an dieser Stelle ansetzen und zwar ohne einzelne Menschen zu beschämen, sondern indem Systeme kritisiert werden. Es gibt online und offline Handarbeitsgruppen, die genau dies tun wollen und sich deshalb Queer-Feminismus auf die Fahne geschrieben haben.

Woman_sewing_with_a_Singer_sewing_machine Handarbeit kann auf unterschiedliche Weise empowernd sein: Ich habe den Beitrag einer jungen genderfluiden Person gefunden, die über das Stricken einen Schulaufsatz geschrieben hat und dort ausdrückt, wie sehr Stricken Empowerment sein und Geschlechterkategorien aushebeln kann.
Handarbeiten kann aber auch schlicht Spaß machen und entspannen, was förderlich für die Gesundheit ist. Du kannst dir also selbst durch den Herstellungsprozess etwas Gutes tun, aber auch die Tatsache, dass du selbst mit deinen eigenen Händen etwas für dich selbst herstellen kannst, empowert. Handarbeiten können auch dazu genutzt werden, aktivistisch tätig zu werden. Viele Menschen stellen beispielsweise aus Protest gegen die Arbeitsbedingungen in der Modeindustrie ihre eigene Kleidung her – oder weil sie ihren Kindern mehr als rosa und blau bieten wollen oder weil sie nicht den gängigen Schönheitsnormen entsprechen, aber schön gekleidet sein wollen. Craftivismus nennt sich diese Bewegung und meint sowohl textiles Arbeiten als aktivistische Praxis als auch Kritik an der Textilindustrie. Mit Handgemachtem können politische Botschaften verbreitet werden. Das zeigt sich zum Beispiel in einigen Yarnbombing-Projekten ( Frauentag , #aufschrei , Olympische Spiele ) oder in großartigen Stickprojekten .

DIY kann eine emanzipatorische Praxis sein, genau wie das öffentliche Schreiben darüber und das Raumeinnehmen mit als „weiblich“ gelabeltem Tun. Ich wünsche mir deshalb weniger Vorurteile gegenüber Handarbeit an sich und weniger Geringschätzung von Personen, die handarbeiten – besonders, wenn sie nicht cis-männlich, weiß und hetero sind.

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Die Angst vor der Neuen Häuslichkeit /die-angst-vor-der-neuen-haeuslichkeit/ /die-angst-vor-der-neuen-haeuslichkeit/#comments Mon, 01 Jun 2015 15:53:47 +0000 /?p=1561 Continue reading Die Angst vor der Neuen Häuslichkeit ]]> Schnecke Anfang Mai habe ich auf der republica einen Vortrag zu Feminismus und Handarbeit gehalten. Für diejenigen, die nicht dabei sein konnten, werde ich das Thema hier noch einmal in zwei Blogartikeln zusammenfassen, dies ist der erste. Es gibt den ganzen Vortrag auch als Podcast zum Nachhören.

Stricken, Häkeln, Nähen und andere Handarbeiten sind seit einigen Jahren wieder stark im Kommen: Handarbeitsläden sehen heute anders aus als früher und es gibt sie auch in hippen Stadtteilen. Moderne Handarbeitsbücher richten sich auch an jüngere Leute und natürlich gibt es das Internet als neue Informationsquelle. Parallel zum Handarbeitsboom wird das Thema aber auch kritisch betrachtet: Es wird das Problem der „Neuen Häuslichkeit“ heraufbeschworen, also eine Entwicklung, die den Rückzug aus der öffentlichen Sphäre ins Private bedeutet. Da wird dann eine apolitische Jugend beschworen, die nur noch Handarbeit, Gärtnern, Kochen o.Ä. als ihren Lebensmittelpunkt betrachten und die Augen vor dem „Ernst des Lebens“ verschließen. Ich möchte gar nicht leugnen, dass es diesen Trend gibt. Doch Zeitungen oder Zeitschriften, die gleichermaßen alte weiße Männer dafür bezahlen, feministische Aktivistinnen zu beleidigen und sexistische, rassistische, homofeindliche Hate Speech immer noch verharmlosend „Trollerei“ nennen, sollten vielleicht nicht ausgerechnet die Handarbeit als Keim des konservativen Rollbacks bezeichnen. Kritik sollte nicht bei Blümchenmustern ansetzen, sondern bei diskriminierenden Systemen. Es geht nicht um die Vorlieben Einzelner, sondern um die Gesellschaft an sich.

Handarbeit ist (heute – das war nicht immer so ) mit Weiblichkeit assoziiert und mit der häuslichen Sphäre verbunden, weil sie jahrhundertelang drinnen ausgeführt wurde und Teil der unbezahlten Care Arbeit von Frauen war. Sie fand oder findet damit außerhalb der öffentlichen Sphäre (die der männlichen Sphäre entspricht) statt. Diese uralte Einteilung wurde mit dem feministischen Slogan „das Private ist politisch“ eigentlich schon lange gebrochen. Natürlich sind auch Vorgänge, die im Verborgenen bzw. Privaten stattfinden, politisch relevant. Diskussionen um häusliche Gewalt oder die Öffnung der Ehe für alle Geschlechter sind hier nur zwei Beispiele von vielen.
Wird das Internet in die Betrachtung einbezogen, erscheint die Aufteilung in Häuslichkeit / Öffentlichkeit gleich noch unzeitgemäßer. Solange wir Zugang zum Netz haben, können wir jederzeit und unabhängig von unserem Aufenthaltsort an Politik teilhaben; als Konsument*innen genauso wie beispielsweise als Aktivist*innen.
Für den Mainstreamjournalismus sind solche Fakten irrelevant, wenn es darum geht, Handarbeit und damit vielfach handarbeitende Frauen, zu kritisieren. Medien, die sonst auch gerne antifeministische Haltungen veröffentlichen, sehen im Handarbeiten plötzlich den Abgesang des Feminismus. Crafting sei Hausfrauen-Kleinklein , für das eine nicht besonders schlau sein müsse und für Frauen, die keine richtigen Jobs haben bzw. denen ihre Berufe zu anstrengend sind. Und dann möchten handarbeitende Frauen auch noch Aufmerksamkeit für das, was sie geschaffen haben!

Was sich hier als feministische Kritik verkauft, ist nichts Anderes als neoliberale Kackscheiße, angerührt mit Sexismus. Handarbeit wird als nicht anstrengend, nicht kompliziert und nicht wertvoll genug kritisiert – und nur was anstrengend ist, kann in diesem Verständnis von Arbeit wertvoll sein.  Frauen dann auch noch vorzuwerfen, dass sie für sich, ihr Tun und ihr Denken Sichtbarkeit möchten, ist ein ganz alter sexistischer Hut . Dieses Bedürfnis wird bei Frauen fast immer negativ bewertet.
Handarbeit als un-feministisch zu bezeichnen, kann nur von Menschen kommen, die die Geschichte des Feminismus und Beispielsweise die Riot Grrrls und ihre DIY-Kultur als zentralen feministischen Grundstein nicht kennen.

buttons-628818_640 Handarbeit ist immer das Vorzeigebeispiel, wenn es darum geht, angebliche „Häuslichkeit“ zu kritisieren.  Wenn Menschen tagelang durch Tumblr scrollen oder eine Modelleisenbahn im Keller haben, gibt es keine Grundsatzdiskussionen über Alltagsflucht. Auch beim (oft Männern zugeschriebenen) „Basteln“ am Computer oder beim Heim- oder Handwerken setzt keine vergleichbare Kritik ein wie bei Handarbeit. Allein, dass im Deutschen Handwerk und Handarbeit begrifflich unterschieden wird, zeigt die Abgrenzung. Eine Kritik, die sich auf Handarbeit beschränkt und in der Handwerk ausgespart wird, ist letztlich vielfach schlichte Weiblichkeitsfeindlichkeit. Das zeigt sich auch darin, dass Cis-Männer, die das Stricken oder Häkeln für sich entdecken, öffentlich oft gefeiert oder gar mit medialer Aufmerksamkeit bedacht werden.

Was bei Kritik an Handarbeit oder Neuer Häuslichkeit im Allgemeinen ausbleibt: Kritik an dem System, das verursacht, dass Menschen aus dem Alltag ausbrechen und Pause machen möchten oder müssen. Meine Generation ist aufgewachsen mit Terrorwarnungen, Kriegen, Wirtschaftskrisen, der NSA, dem Klimawandel und Menschen auf der Flucht. Gleichzeitig sehen wir uns Turboabi, Bolognareform, prekären Arbeitsverhältnissen, Hartz IV und eben nicht zuletzt dem konservativen Backlash ausgesetzt. Der Kapitalismus, das Patriarchat, rassistische Gesellschaftsstrukturen usw. sind Schuld daran, dass Safe Spaces notwendig sind – besonders für Menschen, die nicht männlich, nicht aus der Mittelschicht, nicht hetero oder nicht weiß sind. Wenn diese dann ab und zu abends auf dem Sofa sitzen und eine Socke stricken, ist das kein Weltuntergang.

Bei Kritik an Neuer Häuslichkeit schwingt immer auch Kritik an Selbstverwirklichung mit. Da gibt es Menschen, die es wagen, ihre Freizeit für sich selbst zu beanspruchen. Was als Kritik getarnt ist, ist bloß die Angst, Menschen könnten ernsthaft aus der kapitalistischen Verwertungslogik ausbrechen und somit das System in Frage stellen. Schön wäre es! Aber wenn wir uns mal die Fakten betrachten, geht es letztlich nur um einen geringen Prozentsatz an Leuten, die wirklich aussteigen und der Gesellschaft den Rücken kehren. Bei den meisten geht es einfach nur um ein paar kurzzeitige Alltagsfluchten.

Ich halte die Kritik an der Handarbeit für ein Schreckgespenst und ich glaube, dass Kritik an Neuer Häuslichkeit nie ohne Kritik an der Gesellschaft vonstatten gehen kann. Kurzzeitige Alltagsflucht ist für diskriminierte Gruppen schlichtweg notwendig, um in der Gesellschft überhaupt bestehen zu können oder Kraft zu sammeln für weiteres politisches Engagement. Eskapismus und Aktivismus müssen kein Widerspruch sein. Handarbeit und DIY sind nur ein Nebenkriegsschauplatz. Wir müssen uns mit dem konservativen Backlash an ganz anderer Stelle beschäftigen – nämlich dort, wo er menschenfeindliche Ideen und Hass verbreitet.

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Metalheads 2: Back in Black /metalheads-2-back-in-black/ /metalheads-2-back-in-black/#respond Mon, 02 Mar 2015 07:13:04 +0000 /?p=1205 Continue reading Metalheads 2: Back in Black ]]> Metalheads-Logo

Back in Black

Back in black
I hit the sack
I’ve been too long I’m glad to be back
Yes I’m let loose
From the noose
That’s kept me hanging about
Lookin‘ at the sky
‚Cause it’s gettin‘ me high
Forget the hearse ‚cause I’ll never die
I got nine lives
Cat’s eyes
Abusin‘ every one of them and running wild

‚Cause I’m back
Yes I’m back
(…)
Well I’m back in black
Yes I’m back in black  (…)

Auszug aus Back in Black, AC/DC (1980)

Souls of Black

Müsste man dem Musikstil Heavy Metal eine (Kleider-)Farbe zuordnen, dann wäre das mit Sicherheit Schwarz. Auch wenn gerade kein passendes Bandshirt zur Hand ist – mit schwarzen Jeans und einem schwarzen T-Shirt kannst du auf einem Metalkonzert erst mal nichts verkehrt machen. Von AC/DCs Back in Black über Metallicas Schwarzes Album bis hin zum Genre des Black Metal – die Farbe Schwarz ist allgegenwärtig. Und zudem ist sie verblüffend konstant: Während Modefarben kommen und gehen, bleibt es im Metal über Jahre und Jahrzehnte hinweg beim unbunten Schwarz. Viele Metalheads, darunter auch wir beide, tragen auch im Alltag oder zu Anlässen, zu denen Metal-typische Kleidung nicht passen würde,  gerne schwarz. Die wenigsten fragen sich, warum das so ist.

Hier lohnt ein kurzer Blick in die europäische Kulturgeschichte, wo der Farbe Schwarz ein besonderer Stellenwert zukommt: Sie wird mit Tod, Trauer, Melancholie und Demut ebenso in Verbindung gebracht wie mit Macht, Stärke und Schutz. Schwarze Kleidung versinnbildlicht das Streben nach Wahrhaftigkeit und Authentizität, weshalb sich viele ideologische und elitäre Gruppen gerne in einheitliches Schwarz kleiden.

In den 1950er Jahren erhält die Farbe Schwarz erstmals Eingang in die Jugendkultur. In dieser Zeit beginnen vor allem im US-amerikanischen Raum männliche* Jugendliche durch das Tragen von schwarzen Lederjacken ihre Zugehörigkeit zur Szene der sogenannten „Halbstarken“ zu signalisieren. Neben praktischen Aspekten – ein wichtiges Statussymbol innerhalb der Szene ist das Motorrad – soll die schwarze Lederkleidung auch ein Ausdruck von Stärke, Unabhängigkeit und Gewaltbereitschaft der Gruppe sein. Die Kleidercodes dieser Jugendkultur wurden von Film und Fernsehen aufgegriffen und prägen bis heute das Bild von maskuliner* Unabhängigkeit.

Jolly Roger_02 Ab den 1980ern bildet sich in Europa langsam die sogenannten „Schwarzen Szene“ heraus, eine heterogene Subkultur, die aus unterschiedlichen Musikrichtungen und Modestilen gespeist wird, darunter Gothic Rock, Gothic/Symphonic Metal, Electro, Industrial, Neofolk, Folk Metal, Mittelaltermusik bis hin zu Neuer Deutscher Härte und Black Metal. Die Szenegänger*innen eint neben ihrer Vorliebe für die Farbe Schwarz auch eine gemeinsame Weltanschauung bzw. ein damit verbundenes speziell codiertes Zeichensystem, das oft von Todessymbolen (Schädel) oder heidnischen Symbolen (Runen) geprägt ist. Themen wie gesellschaftliche Tabus, Philosophie, Esoterik und vorchristliche Religionen stehen im Mittelpunkt; die Kleidungsfarbe Schwarz dient zur Abgrenzung von der bunten „Spaßgesellschaft“.

Under Jolly Roger

Und Abgrenzung von der „Spaßgesellschaft“ tut oft Not, denn längst nicht jede*r hat zu dieser Zugang. Queere Kinder und Jugendliche haben es bis heute nicht leicht – umso weniger, wenn sie wie wir beide auf dem Land aufwachsen, wo alles noch in geregelten/(hetero-)normativen/genderstereotypen Bahnen zu verlaufen hat. Unsere Selbstfindung verlief nicht weniger turbulent, aber doch anders als die der Gleichaltrigen. Während um uns herum die Dorfjugend mit heterosexuellen Paarungsritualen beschäftigt war – im Sommer gab es dafür den katholischen Jugendtreff und den Trachtenverein, im Winter die Eisdisco – verfestigte sich in uns ein Gefühl von Nicht-Zugehörigkeit, Anders-Sein und Ausgrenzung. Die räumliche Entfernung zu jeder Art von LGBITTQ-Szene und der Mangel an Internet (Ja echt! Das gab’s mal nicht!) machte einen Austausch mit Gleichgesinnten unmöglich. Unsere Reaktion? Wir schlossen uns einer Gegenkultur an, die für uns über TV und Zeitschriften erreichbar war, und die uns total faszinierte: Metal!

Back in Black Wir begannen, uns ausschließlich in Schwarz zu kleiden und behielten diese Gewohnheit gegen alle Widerstände für mehrere Jahre bei. Die schwarze Kleidung wurde Ausdruck unseres Anders-Seins, das für uns so nicht nur fühl- und lebbar, sondern in einem Akt des trotzigen Aufbegehrens auch nach außen hin sichtbar gemacht werden konnte. Vervollständigt wurden unsere Outfits durch Lederjacken, Kutten und den T-Shirts unserer jeweiligen Lieblingsbands. In der Zeit vor den Girlie-Shirts war diese Kleidung ausschließlich für Männer* bzw. Jungs* gedacht und geschnitten – wir liefen also faktisch in Männer*kleidung herum.

Mit der Übernahme der Bekleidungs-Codes des Heavy Metal eigneten wir uns – mehr oder weniger unbewusst – männlich konnotierte Insignien an, die uns Freiheit versprachen. Und zwar Freiheit von dem bereits seit unserer Geburt vorgezeichneten Leben innerhalb heteronormativer sowie geschlechtsbinärer Normen. Unsere Umwelt reagierte auf unsere Verweigerung femininer Verhaltensweisen mit Unverständnis und der Aufforderung, doch endlich auch mal etwas „Hübsches“ anzuziehen wie die anderen Mädchen* – denn schließlich sollten auch wir beide ja mal einen Mann* abbekommen.

Bis heute manifestiert sich für uns in der Ablehnung bunter Bekleidung unsere Verweigerung gegenüber allzu femininer und unpraktischer Mode mit ihrem Diktat der wechselnden (Mode)Farben – und damit der impliziten Aufforderung ständig hübsch, sexy und für andere erkennbar weiblich* aussehen zu müssen.

Unsere Vorliebe für die maskulinen Outfits unserer Metal-Vorbilder war allerdings mehr als bloßes Cross-Dressing: Wir wollten weg von der als normal und natürlich angesehenen Geschlechterbinarität, welche Menschen ganz klar vorschrieb, was sie auf Grund ihres Geschlechtes zu tun und zu unterlassen hatten. Über den Metal kamen wir in Kontakt mit Männern* bzw. einer Männlichkeit*, die ebenfalls vom Mainstream abwich, denn auch „die Langhaarigen“ galten im dörflichen Umfeld als alles andere als normal. Mit diesem Hinterfragen von Geschlechternomen erschufen wir beide für uns letztlich eine eigene Geschlechtsidentität als Metalheads: Irgendwie keine Frauen*, irgendwie keine Männer*, vielleicht irgendwas dazwischen oder vielleicht auch keines von beidem. Im Zweifel immer Fuck You!  Dieses Gefühl der Verortung zwischen vorgegebenen Kategorien – des nicht eindeutig Zuordnen-Könnens – ist uns bis heute geblieben. Genau wie unsere Vorliebe für Metal als Musikrichtung und Kultur, in der wir uns einfach heimisch und verwurzelt fühlen.

Lesetipps zum Thema Schwarze Szene und Symbolik:

  • Arvid Dittmann: Schwarz als Farbe jugendlicher Subkulturen. In: Alexander Nym (Hg.): Schillerndes Dunkel. Geschichte, Entwicklung und Themen der Gothic-Szene. Plöttner Verlag, 2010.
  • Judith Platz / Alexander Nym / Megan Balanck: Schwarze Subgenres und Stilrichtungen.In: Alexander Nym (Hg.): Schillerndes Dunkel. Geschichte, Entwicklung und Themen der Gothic-Szene. Plöttner Verlag, 2010.
  • Christiane Ana Buhl: Tod, Vergänglichkeit und Düsternis. Der Schädel in der Ästhetik und dem Weltbild der Schwarzen Szene. In: Alfried Wieczorek u. Wilfried Rosendahl (Hg.): Schädelkult. Kopf und Schädel in der Kulturgeschichte des Menschen. Regensburg 2011.

Weiterführende Links zu den Themen queere Identität und Pink/Rosa:

  • Queere Maskulinität: Wie ich Butch wurde
  • @distelfliege: Ich bin nichts für Ungut (Coming out für Heten)
  • @phraselnd: Mein Rosa
  • Kritik an Pink Stinks: Pink stinkt nicht!

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Das war schon immer so?! – Teil 3: Amazonen /das-war-schon-immer-so-archaeologie-kriegerinnen-amazonen/ /das-war-schon-immer-so-archaeologie-kriegerinnen-amazonen/#comments Fri, 06 Feb 2015 16:35:26 +0000 /?p=1483 Continue reading Das war schon immer so?! – Teil 3: Amazonen ]]> Als „Amazonengräber“ werden Gräber von anthropologisch als weiblich bestimmten Kriegerinnen in Osteuropa bezeichnet. Die Gräber werden aufgrund ihrer geografischen Lage und bestimmter schriftlicher Überlieferungen – z.B. durch Herodot und Hippokrates – der skythischen (8. – 3./2. Jh. v. Chr.) und der sauromatischen Kultur (6. – 4. Jh. v. Chr.) zugeordnet, wobei die höhere Anzahl auf die sauromatische Region entfällt, was ebenfalls zu den schriftlichen Überlieferungen passt.

Amazone mit Helm, Schwert und Schild. Attische Trinkschale (Kylix), um 510-500 v. Chr.  © Wikimedia
Amazone mit Helm, Schwert und Schild. Attische Trinkschale (Kylix), um 510-500 v. Chr.
© Wikimedia

Ob es sich bei diesen Gräbern wirklich um die durch Erzählungen antiker Autoren überlieferten Amazonen handelt, lässt sich nicht vollständig klären. Aber es gibt verschiedene schriftliche Überlieferungen, mit denen archäologische Funde der entsprechenden Regionen in Verbindung gebracht werden können. Mir kommt es in diesem Artikel aber gar nicht darauf an, ob es sich hier tatsächlich um „Amazonen“ handelt und ob sich die Gräber in einen mythischen oder historischen Zusammenhang bringen lassen. Deswegen möchte ich die Hinweise darauf hier auch gar nicht weiter aufdröseln und verwende den Begriff in Anführungszeichen als Kennzeichen dafür, dass es sich bereits um eine Interpretation handelt.  Worum es mir vorrangig geht, ist die Tatsache, dass sich Frauenbestattungen mit Waffenbeigaben nachweisen lassen. Im zweiten Teil dieser Reihe hatte ich einen der zentralen Zirkelschlüsse in der Archäologie behandelt, der es stark erschwert, Kriegerinnen zu erkennen.

Grabbeigaben und Geschlecht

Zu den für die skythische Kultur typischen Grabbeigaben gehören Gegenstände oder Kombinationen von Gegenständen, die in der archäologischen Forschung als geschlechtsspezifisch gelten: Für Frauenbestattungen werden Spiegel, Spinnwirtel, Schminke und paarweise beigegebene Ohrringe als typisch angesehen, für Männerbestattungen Waffen, einzeln beigegebene Ohrringe und das Fehlen von Spinnwirteln.

Leider ist nur selten klar, unter welchen Umständen die Grundlagen für diese Zuordnungen gemacht wurden. Da anthropologische Untersuchungen erst so spät unternommen wurden, dass zuvor archäologisch bestimmte Bestattungen im Nachhinein umbestimmt werden mussten, ist es wahrscheinlich, dass allen usprünglichen Untersuchungen zu den Beigaben die archäologische Geschlechtsbestimmung zugrunde lag (was ich im vorigen Artikel bereits beschrieben hatte). Und da die archäologische Geschlechtsbestimmung den Zirkelschluss (Mann = Schwert = Mann) beinhaltet, ist nicht klar, ob die Beigaben, die in der Forschung als Indiz für entweder weibliche oder männliche Bestattete gelten, tatsächlich als Indiz gewertet werden sollten. Es ist sehr wahrscheinlich, dass es sich um eine Projektion von Erwartungen und Vorstellungen der Forschenden auf eine vergangene Kultur handelt. Es ist außerdem grundlegend fraglich, ob die Unterschiede in den Grabbeigaben überhaupt einen Zusammenhang mit dem Geschlecht haben, also tatsächlich auf Geschlechterunterschiede bzw. verschiedene Geschlechteridentitäten zurückzuführen sind oder ob die Verteilung andere Gründe hat.

Interessant sind die sogenannten Mischinventare, in denen sowohl Gegenstände vorkommen, die in der Forschung mit Männergräbern assoziiert werden als auch Gegenstände oder bestimmte Kombinationen, die als Indizien für Frauengräber gelten – und genau diese Mischinventare zeichnen die „Amazonen“-Gräber aus. Den anthropologischen Befunden nach zu urteilen sind Mischinventare bisher nur für als weiblich bestimmte Individuen bekannt – und zwar interessanterweise nur für diejenigen, bei denen “starke weibliche Merkmale am Skelett” (Rolle 1986, 54) erkennbar waren. Das heißt, dass sich vielleicht sogar eine größere Anzahl Kriegerinnen in den Bestattungen verbirgt, da Skelette mit weniger ausgeprägten Merkmalen möglicherweise falsch bestimmt wurden. Ein intensives Reit- und Kampftraining kann außerdem Veränderungen am Skelett bewirkt haben, die unter Umständen ebenfalls zu Fehlbestimmungen führen. (Auch das zeigt wieder, dass unsere Vorstellungen von „männlich“ und „weiblich“ Einfluss auf wissenschaftliche Untersuchungen haben und dass es auch in der Wissenschaft mit der Objektivität schwierig ist.)

Die Interpretationsmöglichkeiten gehen in unterschiedliche Richtungen. Es ist denkbar, dass wir hier Frauen in Männerrollen vor uns haben (sozialer Geschlechterrollenwechsel ), dass es sich um eine Abweichung von zwei gesellschaftlich akzeptierten Kategorien handelt, dass wir es mit einer dritten Geschlechtskategorie zu tun haben, wie sie z. B. aus verschiedenen ethnologischen Forschungen bekannt ist, oder dass die Geschlechterrollen flexibler waren als klassischerweise in der Archäologie angenommen wird. Es kann aber ebenso gut sein, dass die Funktion der „Amazonen“ als Kriegerinnen mit dem Geschlecht nichts zu tun hatte. Wir wissen nicht mit Sicherheit, welche Definition von „männlich“ und „weiblich“ (und möglicherweise weiteren Geschlechskategorien) die skythischen und sauromatischen Gruppen hatten und welche Geschlechterrollen und -identitäten es in den entsprechenden Kulturen/Gruppierungen gab. Dementsprechend können wir weder von einem Rollenwechsel ausgehen, der feste Geschlechterrollen voraussetzen würde, noch von einer Trans*-Identität, die das Vorhandensein von binären Geschlechtsidentitäten voraussetzen würde. Eine dritte Geschlechterkategorie ist ebenso denkbar wie die absolute Unwichtigkeit des Geschlechts für die Funktion als Krieger*in.

Die Kriegerinnengräber

Auf antiken bildlichen Darstellungen der Amazonen werden diese häufig mit Streitäxten gezeigt.

Gemme mit Amazone mit Pelta und Streitaxt über dem Kopf © Arachne
Gemme mit Amazone mit Pelta und Streitaxt über dem Kopf
© Arachne

Während Renate Rolle 1986 schrieb, dass materielle Belege für Streitäxte in Frauengräbern nur eine Frage der Zeit sein können, ist inzwischen eine Streitaxt als Beigabe aus einem Grab mit einer anthropologisch als weiblich bestimmten Bestatteten belegt: Als “Amazone von Pazyryk” wird eine junge Frau bezeichnet, die im Kurgan (Grabhügel) 1 im Grabkomplex von Ak-Alacha 1 im Hochaltai bestattet wurde und deren Bestattungsumstände auch ansonsten sehr interessant sind: Es handelt sich hierbei um eine Doppelbestattung der etwa 16-17 Jahre alten Frau und eines etwa 45-50 Jahre alten Mannes, der an Morbus Bechterew gelitten hatte. Die beiden wurden in getrennten Holzsärgen bestattet, beide hatten neben anderen Beigaben jeweils einen Eisendolch, eine eiserne Streitaxt bzw. Streithammer mit Holzgriff, einen nur fragmentarisch erhalteten Köcher mit Pfeilspitzen und Teile eines hölzernen Bogens in unmittelbarer köperlicher Nähe. Zudem fanden sich in beiden Särgen Gürtelschnallen, die erwähnenswert sind, weil innerhalb der Pazyryk-Kultur nur Krieger Gürtel mit Schnallen besaßen. In einem eigenen Grabkammerabschnitt wurden mehrere Pferde bestattet, die wohl zu diesem Anlass getötet wurden, wie die von Streitpickeln eingeschlagenen Schädel annehmen lassen. Dieser Umstand weist zusammen mit vielen anderen reichen Beigaben auf einen hohen Status der Bestatteten innerhalb ihrer Gesellschaft hin. Da die Erkrankung des Mannes nachweislich die gesamte Wirbelsäule stark einschränkte und er nicht eigenständig aufs Pferd steigen konnte, wird die junge Frau als seine Gehilfin und Beschützerin interpretiert, was durch ihre Körperbeschaffenheit und gut entwickelte Muskulatur gestützt wird. Eine beginnende Deformation ihrer Knochen weist darauf hin, dass sie an der gleichen genetisch vererbbaren Krankheit in einem frühen Stadium litt, was ein Verwandtschaftsverhältnis der beiden annehmen lässt. Beide Verstorbenen wurden nicht einfach nebeneinander, sondern gleichzeitig bestattet. Die Todesursache des Mannes mag seine Erkrankung gewesen sein, die Todesursache der jungen Frau ist bisher nicht geklärt. Es ist möglich, dass sie ihm als seine Beschützerin / Gehilfin in den Tod folgen musste oder wollte, allerdings sind zumindest am Knochenmaterial keine Spuren von Gewaltanwendungen gefunden worden.

Im Gebiet der sauromatischen Kultur wurden nach der Archäologin Renate Rolle etwa 20% der Bestatteten mit Waffen und Pferdegeschirr anthropologisch als weiblich bestimmt (Stand 1986). Was die Waffen angeht, herrschen hier vor allem Pfeil und Bogen vor.

Bogen und Goryt (Köcher für Pfeile und Bogen) - Rekonstruktionszeichnung von 1885 © Wikimedia
Bogen und Goryt (Köcher für Pfeile und Bogen) – Rekonstruktionszeichnung von 1885
© Wikimedia

Aus der skythischen Region sind ebenfalls zahlreiche Frauengräber mit Waffenausstattung bekannt.  Es fanden sich um die 130 Gräber im Süden der Ukraine, in denen Kriegerinnen bestattet wurden und die alle ins 5./4. Jh v. Chr. datieren (Stand 2010). Wie es in anderen Regionen zahlenmäßig genau aussieht und wie die Verteilung zeitlich insgesamt ist, ist aus der mir vorliegenden Literatur nicht ersichtlich. Prozentuale Angaben für Skythien fehlen, ebenso wie andersherum die genauen Zahlen aus dem sauromatischen Gebiet. Die Vielfalt der Waffenbeigaben ist in der skythischen Region größer und es finden sich zum Teil auch Kombinationen unterschiedlicher Waffen, was für die Beherrschung unterschiedlicher Kampfarten sprich.  Gefunden wurden Lanzen, Wurfspieße, Schwerter, Dolche, Pfeile, Köcherreste, zudem verschiedene Schutzrüstungsteile wie  Schuppenpanzer und metallverstärkte Kampfgürtel.

An dieser Stelle möchte ich in Erinnerung rufen, dass niemand sich selbst bestattet. Bestattungen geschehen im gesellschaftlichen Kontext und Konsens. Das ist deswegen interessant, weil wir davon ausgehen können, dass die “Amazonen” in ihrer Rolle und/oder Funktion akzeptiert wurden. Renate Rolle erwähnt immer wieder, dass „Amazonen“ aus (fast) allen sozialen Schichten bekannt sind und bezieht sich dabei auf den Ausstattungsreichtum der Gräber. Sie stellt aber auch heraus, dass „Amazonen“-Bestattungen meistens entweder Einzelbestattungen sind oder aber im Falle von Mehrfachbestattungen die Hauptbestattung darstellen und keine spätere Nachbestattung  – das heißt, das Grab wurde für sie angelegt. Auch dieser Umstand kann einen Hinweis auf sozialen Status geben. Insofern ist denkbar, dass ein gewisses Ansehen mit ihrer Rolle/Funktion einhergegangen sein könnte, dass sie also nicht nur akzeptiert, sondern auch geschätzt wurden.

Waffen – tatsächlich benutzt?

Bei Schwertbeigaben in Männergräbern kommt niemand in der archäologischen Forschung auf die Idee, zu postulieren, dass das Schwert nicht von dem hier bestatteten Mann benutzt wurde und dass die Beigabe andere Gründe hatte (es sei denn, das Schwert ist aus Gold, hat keinerlei Gebrauchsspuren, und/oder ist eindeutig nicht funktional – dann wird es als Statussymbol oder Herrschaftsinsigne angesprochen).

Aber bei Frauengräbern mit Schwertern werden keine Mühen gescheut, andere Eklärungen zu finden – und scheinbar wird die Absurdität oft nicht einmal bemerkt. Da gibt es die (beliebte) Annahme, das rituelle Gründe bestehen. Oder die Leichname der Männer, die eigentlich hier bestattet werden sollten, waren nicht verfügbar und mussten durch Frauen ersetzt werden. Oder die Frauen bekamen die Waffen ihrer Väter / Brüder / anderer männlicher Verwandter mit ins Grab. Oder die Waffe im Grab der Frau war ein Geschenk ihres Ehemanns. Oder es könnte sich statt um Frauen um Enarer handeln: Männer, die für die Plünderung eines Aphrodite-Heiligtums von der Göttin mit einem “Frauenleiden” bestraft wurden.
Das alles klingt auf Anhieb sofort viel plausibler als der Gebrauch der Waffen durch Frauen, oder?! (Leider sind das alles ernst gemeinte Vorschläge, wenn auch nicht alle für diese Region und diese Zeit.)

Die anthropologischen Befunde zeigen deutlich, dass die Waffen benutzt wurden und dass die bestatteten “Amazonen” an Kampfsituationen beteiligt waren. So ist z.B. die Beanspruchung durch kontinuierliches Bogenschießen anhand von Verschleißerscheinungen an zwei Fingern der rechten Hand einer Bestatteten aus der Nekropole des Certomlyk-Kurgans (Kurgan 11, Bestattung 2) in der heutigen Ukraine belegt. Eine dreiflügelige bronzene Pfeilspitze war wahrscheinlich die Todessursache einer verhältnismäßig jungen Frau aus der gleichen Nekropole (Kurgan 9, Bestattung 2). Eine 30 bis 40 Jahre alte Frau, die unter anderem mit einer Lanze und einem Eisenmesser in Grusinien (entspricht geografisch dem antiken Kolchis) bestattet wurde, weist eine schwere Verletzung an der linken Schädelseite auf. Diese ist nach Meinung des Ausgräbers als Folge eines Schlags oder Stichs anzusehen und hatte vor ihrem Tod bereits begonnen, auszuwachsen – das heißt, die Bestattete hat diese Verwundung noch eine ganze Weile überlebt. Vergleichbare und weitere Verletzungen finden sich noch an weiteren Skeletten aus anderen Gräbern. Altersmäßig überwiegen jüngere “Amazonen”, was zusammen mit den Verletzungen für einen frühen Tod im Kampf spricht.

Für Schutzrüstungen, die im skythischen Gebiet nachgewiesen werden konnten, wurde übrigens früher in der archäologischen Forschung angenommen, dass Frauen sie aufgrund ihres Gewichts nicht tragen konnten – inzwischen gibt es sowohl Belege für die Nutzung durch anthropologisch als weiblich bestimmte Individuen als auch Belege durch experimentelle Versuche.

Tl; dr

Es gab Personen, die körperlich unserer Definition von “weiblich” entsprachen, aber mit Beigaben bestattet wurden, die in der archäologischen Forschung männlich konnotiert sind. Das wird eventuell als Diskrepanz wahrgenommen – die allerdings nur mit den Erwartungshaltungen und tradierten Denkweisen der Interpretierenden zu tun hat. Es läuft alles darauf hinaus, dass wir zwei konstruierte Kategorien haben, die in der Forschung früher niemals miteinander verknüpft wurden und so nicht in das Bild der traditionellen archäologischen Forschung passen. „Amazonen“-Gräber sind komplexe Bestattungen, die traditionelle Sichtweisen herausfordern und die uns zeigen, dass die bisherigen archäologischen Interpretationen zu wenig Möglichkeiten in Betracht ziehen und dass die archäologische Forschung ihr Weltbild öffnen muss. Unklar bleibt, wie viele anthropologisch als „weiblich“ bestimmbare Individuen mit Waffenbeigaben aufgrund der Beigaben als „männlich“ interpretiert wurden, weil die anthropologischen Bestimmungen nicht durchgeführt wurden. Es ist möglich, dass es viele weitere Gräber von Kriegerinnen oder Jägerinnen gibt, die nicht erkannt wurden. Aber selbst, wenn es sich dabei um Ausnahmen handelt, sind diese wichtig für ein differenziertes Bild der jeweiligen Gesellschaft. Mit jeder übersehenen oder für unwichtig befundenen und daher ignorierten Ausnahme wird ein Bild von Geschlechterrollen und -verhältnissen der Vergangenheit gefestigt, das wegen genau dieser Ausnahme überdacht werden müsste. Wir schaffen uns durch eingeschränkte Interpretationen eingeschränkte Vorstellungen von Rollenbildern in der Geschichte, und übertragen diese dann auf die Gegenwart. Statt dessen muss (nicht nur) die archäologische Forschung ihren Blick schärfen für die eigene Interpretationsbasis, für Verzerrungen und Vereinfachungen, die weder der Vergangenheit noch unserer gelebten Realität gerecht werden.

Ideal wäre es, für anstehende Untersuchungen keine bestimmte Anzahl von Geschlechterkategorien anzunehmen und für Gesellschaftsmodelle offen zu sein, die von unseren bekannten abweichen.

Literaturauswahl

Karlisch, Sigrun M. et al. (Hrsg.): Vom Knochenmann zur Menschenfrau. Feministische Theorie und archäologische Praxis . Münster 1997
(Zu Geschlechterforschung in der Archäologie und der allgemeinen Problematik von Beigaben und Geschlecht)

Parzinger, Hermann : Die Skythen . 2. Auflage, München 2004
(Allgemeines zu den Skythen, nur wenig zu den “Amazonen”)

Rolle, Renate : Die Welt der Skythen . Frankfurt / Main 1980
(Schöner kleiner Band mit vielen Bildern, hauptsächlich zu den Skythen allgemein)

Rolle, Renate : Amazonen in der archäologischen Realität . In: Kreutzer, Joachim (Hrsg): Kleist-Jahrbuch . Berlin 1986, S. 38 – 62
(Wichtiger und wegweisender Artikel zur archäologischen Forschung der „Amazonen“. Verknüpfung von Mythologie und schriftlicher Überlieferung mit den archäologischen Befunden, grundlegende Informationen zu den archäologischen Befunden, Mischinventaren, Interpretation der Gräber, Benutzung der Waffen etc…)

Historisches Museum der Pfalz Speyer (Hrsg.) : Amazonen – Geheimnisvolle Kriegerinnen . München 2010, S. 178-181
(Ausstellungskatalog mit Essays zu verschiedenen Themenkomplexen. Mehrere Artikel von Renate Rolle, die als Ergänzung / Update zu ihrem Artikel von 1986 wichtig sind. Außerdem Infos zur Amazone von Pazyryk und Belege für Lamellenrüstungen)

Übrigens: Ausdrücklich nicht empfehlenswert finde ich Die verlorene Geschichte der Amazonen von Gerhard Pöllauer. An den Haaren herbeigezogen und totale Zeitverschwendung.

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Metalheads – All we are /metalheads/ /metalheads/#comments Wed, 26 Nov 2014 13:44:27 +0000 /?p=1175 Continue reading Metalheads – All we are ]]> metalheads All we are

All we are
all we are, we are
we are all, all we need

All we are
all we are, we are
we are all, all we need

There’s beauty in the heart of a beast
fear behind the eyes of a thief
i know, you know we’re all incomplete
lets get together
and lets get some relief

stronger than a mountain of steel
faster than hell on wheels
we’ve got we’ve got all the power we need
lets build a playground on this old battelfield

now we’re stronger
we no longer want you bringin‘ us down
we’ve got the magic
so we’re gonna spread the magic around yeah!

Now we’re stronger
we no longer want you pushin’us

Warlock – All we are (1987)

Als ich in der 9. Klasse war, geschahen zwei Dinge, die alles für immer veränderten:

Bones schneite in mein Leben. Und brachte eine Musik mit, die jede mir bis dahin bekannte Ordnung in Frage stellte. Laut, gefährlich und unangepasst. Diabolisch und verboten. Schon der Name war gleichzeitig toxisch und verheißungsvoll: Heavy Metal.

Da wurde zu verzerrten Gitarren gebrüllt, Männer hatten lange Haare und Frauen trugen Lederjacken. Sogar der Teufel galt als gar nicht mal sooo übel, schließlich hatte er seinerzeit Machtstrukturen hinterfragt und wurde dafür aus dem Himmel geworfen. (Das hatte ihm aber nicht nachhaltig geschadet, denn er hatte ja sehr erfolgreich seinen eigenen Laden aufgemacht; einen Laden, zu dem wir – die Metalheads – irgendwie auch gehörten.)

Kurz gesagt: Ich fand eine Welt, in der es Nischen für mich gab. Eine Welt, die mir Sicherheit und Halt bot, während die dörfliche Lebensrealität um mich herum immer absurder und irrsinniger wurde. Eine Welt, deren Symbolsprache ich verstand. Lange bevor ich mein Coming Out hatte, mich in feministische Theorien einlas und auf die Queer Studies stieß, fand ich im Heavy Metal das Versprechen, dass es in Ordnung ist, anders zu sein. Eine Welt, die Unangepasstheit feierte.

Stiefel
Und obwohl viele wohlmeinende Menschen nicht müde wurden, Bones und mir immer wieder zu versichern, dass es sich bei unserer Schwärmerei für diese Musikrichtung ja nur um eine Phase handelte, blieb der Metal uns treu. Über die Jahre veränderten wir uns und damit auch unseren Zugang und unsere Fragestellungen. Was blieb, war Heavy Metal als riesengroße Metapher für die Möglichkeit, außerhalb der Normalität zu leben. Auch und gerade, wenn du nicht hetero und cis bist.

Mit unserem queeren Blick auf Metal wollen Bones und ich in Zukunft hier bloggen. Ihr dürft also gespannt sein auf unsere Serie „Metalheads“. Und falls ihr Lust auf Musik habt: Hier performt die großartige Doro Pesch live auf Wacken. 😉

Übrigens – falls das nicht eh schon klar ist: Unser Zugang ist absolut subjektiv. Uns ist außerdem bewusst, dass es im Heavy Metal sehr wohl Sexismus, Heterosexismus und Rassismus gibt. Wir werden das zu gegebener Zeit auch thematisieren.

In erster Linie geht es uns in dieser Serie allerdings darum, queere Räume zu zeigen und unsere ganz persönlichen Erfahrungen und Gedanken zu teilen. Wir wollen keineswegs Erfahrungen abwerten, die andere Menschen in diesem Zusammenhang gemacht haben.

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Das war schon immer so!? – Teil II: Von Geschlechtsbestimmungen und (Un-) Sichtbarkeit /archaeologie-gender-unsichtbarkeit-geschlechtsbestimmung/ /archaeologie-gender-unsichtbarkeit-geschlechtsbestimmung/#comments Wed, 17 Sep 2014 16:01:12 +0000 /?p=918 Continue reading Das war schon immer so!? – Teil II: Von Geschlechtsbestimmungen und (Un-) Sichtbarkeit ]]> Im ersten Teil dieser Serie zu Archäologie und Geschlecht habe ich ein paar grundlegende Gedanken festgehalten, mich zu Objektivität und Interpretation geäußert und meinen persönlichen Standpunkt dargelegt. Wer das (noch einmal) nachlesen möchte, findet hier den Artikel .

Gräber und Grabausstattung im Wandel der Forschung

In der prähistorischen Archäologie waren Gräber zunächst die wichtigsten  Forschungsobjekte. Sie wurden als Spiegel des Lebens und als direktes Abbild der Gesellschaft angesehen. Die Kleidung, die Bestattete trugen, wurde als übliche (Alltags-) Kleidung oder Tracht angesprochen, die beigegebenen Gegenstände wurden als persönliche Habe der bestatteten Person angesehen, die diese im Leben benutzte. Inzwischen gelten diese Annahmen als überholt: Bestattungen werden viel eher als eine Möglichkeit gesehen, wie Hinterbliebene sowohl die bestattete Person als auch sich selbst darstellen können. Nicht nur der Status der*des Verstorbenen wird ausgedrückt, sondern ebenso der Status der Angehörigen – das wird klar, wenn man sich überlegt, dass sich niemand selbst bestattet. Außerdem sind Bestattungsrituale (inklusive Kleidung und Beigaben) nicht individuell, sondern sie folgen bestimmten gesellschaftlichen Normen und Werten. Es ist anzunehmen, dass eine bestattete Person mit ihrer Kleidung und ihren Beigaben ein Idealbild der entsprechenden Gesellschaft verkörpert und wir können nicht mit Sicherheit davon ausgehen, dass die Person als Indiviuum diesem Idealbild auch (vollkommen) entsprach. Sicher sagt die Bestattung trotzdem etwas über die Gesellschaft und ihre kollektive Identität aus, sollte aber nicht eins zu eins mit einer Lebensrealität gleichgesetzt werden.

Die Interpretation des Grabes als genaues Abbild des Lebens zeigt, dass archäologische Forschung nicht objektiv und nicht endgültig ist, sondern dass bestimmte Annahmen im Laufe der Zeit Diskussion und Veränderungen erfahren.

Aber zurück zu den Gräbern.

Schwert = Mann?

Was einige vielleicht nicht wissen: Es war lange Zeit üblich, das Geschlecht einer bestatteten Person ausschließlich anhand der Grabbeigaben zu bestimmen (die sogenannte archäologische Geschlechtsbestimmung). Welche Grabbeigaben eignen sich aber zur Bestimmung des Geschlechts? Es war offenbar nicht vorstellbar, dass einer bestatteten Frau ein Schwert mit ins Grab gegeben wurde, also galten Schwerter und andere Waffen in der frühen Forschung (und leider häufig noch immer) als Indiz für Männergräber. Diese Annahme führte zu einem fatalen Zirkelschluss : Schwerter wurden mit Männlichkeit assoziiert, also wurden Gräber mit Schwertern als Männergräber angesprochen. Bei Auswertungen wurde dann festgehalten, dass Schwerter nur in Männergräbern gefunden wurden. Die Tatsache, dass das Schwert ja jeweils das war, was den Ausschlag für die Geschlechtsbestimmung gab, wurde einfach übersehen.

Schwert
© The Swedish History Museum, Stockholm
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(bearbeitet von Weird)

Schmuck galt nur bei gleichzeitiger Abwesenheit von Waffen als Indiz für eine Frauenbestattung. Enthielt ein Grab Waffen und Schmuck, so wurde von einer Männerbestattung ausgegangen, da die Waffe als ausschlaggebendes Definitionsmittel für Männergräber alle anderen Faktoren quasi übertraf. Ein Schmuck tragender Mann war demnach eher vorstellbar als eine Waffen tragende Frau. Diese Vorstellung schlug sich direkt in der archäologischen Geschlechtsbestimmung nieder, die eine der Grundlagen der archäologischen Forschung bildete und bis heute nicht aus den Köpfen der Archäolog*innen und der Gesellschaft verschwunden ist.

Da die Abwesenheit von Waffen auch andere Bedeutungen haben kann bzw. Waffen nicht auf allen Bestattungsplätzen üblich sind, wurde allerdings nicht jede Bestattung ohne Waffen im Umkehrschluss als Frauenbestattung interpretiert. Ein Merkmal, das in der Forschung so ausschließlich als Indiz für Frauenbestattung galt wie die Waffe für Männerbestattungen, gibt es meines Wissens nach nicht. Diese Umstände führen zu einer erhöhten Sichtbarkeit von Männern und einer erhöhten Unsichtbarkeit von Frauen und verzerren die Realität.

Anthropologische Geschlechtsbestimmung

Neben der archäologischen Geschlechtsbestimmung gibt es die Möglichkeit der anthropologischen Geschlechtsbestimmung, die anhand von Maßen und Ausprägungen bestimmter Charakteristika an menschlichen Skeletten oder Skelettresten erfolgt. Je vollständiger das Skelett ist, desto sicherer ist die Geschlechtsbestimmung. Da am menschlichen Becken ein “funktionell bedingter Geschlechtsdimorphismus” (Grupe et al.: Anthropologie. Ein einführendes Lehrbuch (2005), S 93) vorliegt, ist die Bestimmung hier am sichersten und liegt für erwachsene Individuen bei einer Zuverlässigkeit von bis zu 96%. Merkmale und Maße von Schädel und Zähnen bieten ebenfalls eine hohe Bestimmungssicherheit, da Elemente an weiblichen Skeletten im Allgemeinen kleiner und weniger robust sind als die an männlichen. Allerdings muss für den sinnvollen Vergleich dieser Maße im Vorfeld eine Gesamterfassung der zu untersuchenden Population erfolgen und eine Serie als Datengrundlage aufgestellt werden, da es keine präzisen Grenzen zwischen den Geschlechtern gibt und die Maße relativ sind. Für die anthropologische Geschlechtsbestimmung muss der Geschlechtsdimorphismus der Vergleichsserie bekannt sein. Die Geschlechtsbestimmung von fragmentarisch erhaltenen Skelettresten kann bis zu 80% erfolgreich sein, die Geschlechtsbestimmung von nicht erwachsenen Individuen liegt bei etwa 70%.

Skelett
© herr_hartmann
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(bearbeitet von Weird)

Auch die anthropologische Geschlechtsbestimmung hat also bei weitem keine hundertprozentige Bestimmungssicherheit, hat aber gegenüber der archäologischen Methode einen eindeutigen Vorteil: Sie beruht nicht auf Objekten, von denen wir annehmen, dass sie einem bestimmten Geschlecht (von zweien, die in unserer Gesellschaft akzeptiert sind) zugeordnet sind. Damit enthält sie nicht schon im Vorfeld die unbegründete Prämisse von geschlechtsspezifischen Tätigkeiten oder einer geschlechtsspezifischen Nutzung von Objekten.

Nur Männer und Frauen?

Ich habe schon im letzten Artikel über Vorannahmen gesprochen, die in der archäologischen Interpretation implizit bestehen. Die Annahme, dass eine Waffe als Beigabe auf eine Männerbestattung hinweist, ist nur eine davon. Weitere Annahmen, die zu einer Verzerrung des Gesellschaftsbildes vergangener Gemeinschaften führen, sind die der binären Geschlechterordnung und der ausschließlich heterosexuellen Paarbeziehung – sehr häufig wird gar von Ehe und Heirat gesprochen, ohne das Konzept auch nur ansatzweise zu hinterfragen. Diese Vorannahmen erfolgen stillschweigend; sie werden als so selbstverständlich vorausgesetzt, dass sie in keiner Weise thematisiert oder gar diskutiert werden. Ich kann mich an keine gängige Lektüre im Studium erinnern, die von diesen Annahmen abweichende Überlegungen anstellt. Dabei ist es ist nicht so, dass es keine Fachliteratur zu Genderthemen in der Archäologie gibt (es gibt zum Beispiel die Bände von FemArc ). Ich wurde von einer Ausgrabungsleiterin auf diese Themen aufmerksam gemacht und habe dann für meine Magistraarbeit umfangreich recherchiert. Wenn aber kein eigenes Interesse an kritischer Betrachtung von Archäologie und Geschlecht besteht, ist davon nichts zu merken; diese Themen sind weder Teil des Studiums, noch allgemein in der archäologischen Forschung verankert. Neuere Literatur lässt jedoch hoffen, dass langsam ein Wandel eintritt.

Gesellschaftsformen mit mehr als zwei Geschlechtern oder mit von den vorherrschenden Vorstellungen abweichenden Geschlechterrollen wurden in der Archäologie bisher selten in Betracht gezogen. Seminare und Vorlesungen im Studium waren ebenfalls stark in der Tradition verhaftet, obwohl ich Professoren (sic!) hatte, die eigentlich weiter gedacht haben. Dementsprechend ist auch für mich in vielerlei Hinsicht ein Umdenken bzw. ein Mehrdenken nötig.

Die anthropologische Geschlechtsbestimmung hat zwar gegenüber der archäologischen Geschlechtsbestimmung den bereits genannten Vorteil, dass sie nicht auf eine Interpretation von Objektnutzung angewiesen ist und stattdessen anhand körperlicher Merkmale erfolgt, jedoch ist auch das nicht ganz unproblematisch: Erstens befinden wir uns damit ebenfalls in einem binären Interpretationssystem, das nur Männer und Frauen mitdenkt und zulässt. In einem nicht-binären Gesellschaftssystem ist Geschlecht aber nicht am Körper ablesbar, kann also durch die anthropologische Geschlechtsbestimmung nicht erfasst werden. Zweitens sind zwar physische Merkmale erkennbar, aber das hilft nur sehr bedingt weiter: das hormonale Geschlecht ist durch die physische Anthropologie ebensowenig erfassbar wie das genetische Geschlecht oder das gonadale Geschlecht (und auch das genitale Geschlecht ist nur unter bestimmten konservatorischen Umständen sichtbar), und so zeigt diese entsprechend nur einen kleinen Ausschnitt von dem, was nach dem Verständnis unserer Gesellschaft das Geschlecht bedingt. Zudem ist weder vorauszusetzen, dass sich eine Geschlechteridentität in der entsprechenden zu untersuchenden Gesellschaft an diesen Merkmalen orientiert bzw. damit korreliert, noch, dass Geschlecht überhaupt relevant für die eigene Identität innerhalb dieser Gesellschaft ist. Die Anthropologie bezieht sich also nur auf Körper, Überlegungen zu sozialen Identitäten und Geschlechterrollen bleiben spekulativ (und sind dann zusätzlich auf die Beigaben angewiesen). Das heißt nicht, dass diese Überlegungen nicht angestellt werden können oder sollten, sondern nur, dass keine Tatsachen dargestellt werden können und dass Überlegungen als solche erkennbar sein sollten.

Natur vs. Kultur

Was außerdem bei allen Interpretationen und Rekonstruktionen vergangener Gesellschaften beachtet werden sollte, ist, dass der menschliche Körper und seine Form als ein gesellschaftliches bzw. kulturelles Produkt angesehen werden müssen. Der Körper wird unter anderem durch Ernährung und Aktivitäten bzw. Belastungen geformt, die in manchen Gesellschaften abhängig vom Geschlecht sein können. Dabei zeigt sich jedoch gegebenenfalls eine geschlechtsspezifische Arbeitsteilung der untersuchten Gesellschaft und nicht eine interpretierte geschlechtsspezifische Arbeitsteilung anhand von Objekten, die ohne nachvollziehbare Grundlage einem bestimmten Geschlecht zugeordnet werden. Auf diese Weise wird es also möglich, die Wahrnehmung und Inszenierung von Geschlecht in der jeweiligen zu untersuchenden Gesellschaft in Teilen zu rekonstruieren. Es darf nur nicht der Fehler begangen werden, die Körperform als natürlich anzusehen und damit jede eventuell bestehende Differenz zwischen Körpern verschiedenen Geschlechts als biologische Gegebenheit zu betrachten. Was erschwerend hinzukommt, ist, dass auch unser Blick auf den Körper bereits kulturell geprägt ist, sodass wir Menschen aufgrund ihrer primären und sekundären Geschlechtsmerkmale in “männliche Körper” und “weibliche Körper” einteilen. Kultur geht hier der Natur sozusagen voraus.

Belastungen, Ernährung und körperliche Aktivitäten haben Einfluss auf die körperlichen Merkmale. Wird das Geschlecht anhand der Robustizität der Knochen bestimmt, werden Frauen, die harte körperliche Arbeiten verrichtet haben, unter Umständen anthropologisch als “männlich” bestimmt (was wieder in einer kulturell geprägten Erwartungshaltung bzw. Vorstellungsmöglichkeit begründet liegt). Trotzdem – und weil die Robustizität der Knochen nicht die einzige Möglichkeit der physischen Geschlechtsbestimmung ist – gibt es viele Fälle, in denen Menschen mit weiblich gelesener Physiognomie, die zu Lebzeiten männlich konnotierte Tätigkeiten ausgeführt haben, nach ihrem Tod weiterhin anthropologisch als “weiblich” bestimmt werden können. Das zeigt, dass die anthropologische Geschlechtsbestimmung eine gesellschaftliche Dimension aufdecken kann, die bei der Anwendung der archäologischen Geschlechtsbestimmung verborgen bleiben würde: geht man nur nach den Beigaben und nimmt an, dass Schwerter ausschließlich Männern beigegeben wurden, sind nur kämpfende Männer sichtbar (archäologische Geschlechtsbestimmung). Geht man nach dem anthropologischen Befund, können auch kämpfende Frauen in Erscheinung treten (zum Beispiel Wikingerinnen ). Ob ein anderes Verständnis von Geschlecht, ein Geschlechterrollenwechsel, oder eine von unserem traditionellen Weltbild abweichende Geschlechtsidentität dahinter steckt, oder ob Aktivitäten und Beigaben in der jeweiligen Gesellschaft gar keinen Zusammenhang mit dem Geschlecht hatten, lässt sich nicht einfach und vor allem nicht pauschal beantworten. Immerhin lässt sich mit Hilfe der anthropologischen Geschlechtsbestimmung eine weitere Facette unserer Vergangenheit zeichnen und ein differenzierteres Bild entwerfen als durch die archäologische Geschlechtsbestimmung. Leider wird in der prähistorischen Archäologie allzu häufig letzterer der Vorzug gegeben. Es ist nicht nur so, dass die anthropologische Geschlechtsbestimmung nicht der Standard ist, sondern es gibt mehrere mir bekannte Fälle, in denen Skelette aufgrund ihrer Beigaben umgedeutet wurden, und Fälle, in denen das Urteil des zuständigen Anthropologen (betrifft möglicherweise auch Anthropologinnen, allerdings nicht in den mir bekannten Beispielen) durch die Ausstattung der*des Bestatteten beeinträchtigt wurde.

Dass das Bild, das sich durch das Zusammenspiel von anthropologischer Geschlechtsbestimmung und Beigabenzuordnung zeichnen lässt, aber noch nicht differenziert genug ist, zeigt die bereits genannte bestehende Annahme einer binären Geschlechterordnung und vorherrschender Heteronormativität. Hier ist ein entsprechendes Bewusstsein in der archäologischen Forschung nötig und hier muss in archäologischen Interpretationen angesetzt werden. Dass es durchaus Gedanken in diese Richtung gibt, zeigt ein jüngerer Befund aus Prag, den ich zu gegebener Zeit in einem eigenen Artikel vorstellen möchte.

Zur Notwendigkeit von differenzierten Bildern

Wie sehr unsere vermeintliche Vergangenheit unsere Gegenwart beeinflusst, sehen wir an Aussagen wie „das war schon immer so!“. Solange wir ohne handfeste Beweise davon ausgehen, dass ausnahmslos Männer für die Jagd zuständig waren, während die Frauen brav in der Höhle saßen und die Kinder aufzogen, wird das auch unsere Zukunft beeinflussen. Die Interpretation archäologischer Funde und Befunde hat Einfluss darauf, wie wir unsere Welt wahrnehmen und dient der Legitimierung des Status quo. Wie sehr die archäologische Forschung jedoch von gängigen Vorstellungen über Geschlechterrollen geprägt ist und damit ein Weltbild aufrecht erhält, das auf fragwürdigen Grundlagen basiert, zeigt der Zirkelschluss Schwert = Mann = nur Männer haben Schwerter. Dabei wird deutlich, dass wir sehen, was wir kennen und erwarten. Frauen wird dabei ebenso wie Menschen, die außerhalb der binären Geschlechterordnung stehen, ein Teil ihrer Geschichte vorenthalten, indem bestehende Weltbilder und Vorstellungen auf die Vergangenheit projiziert werden. Die mögliche Vielfalt an (Geschlechter-) Identitäten wird nicht berücksichtigt und es entsteht ein eindimensionales, verzerrtes Bild unserer Vergangenheit.

Wikingerpaar (modern)
© Jonathan_W (@whatie)
/photos/s3a/641736495

Mein herzlicher Dank für Literaturhinweise und Korrekturen im anthropologischen Teil geht an die Anthropologin Johanna Kranzbühler von http://skelettanalysen.de

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Warum Ubisoft irrt: Spielbare weibliche Charaktere und das Märchen vom „Mehraufwand“ /warum-ubisoft-irrt-spielbare-weibliche-charaktere/ /warum-ubisoft-irrt-spielbare-weibliche-charaktere/#comments Wed, 11 Jun 2014 18:20:16 +0000 /?p=952 Continue reading Warum Ubisoft irrt: Spielbare weibliche Charaktere und das Märchen vom „Mehraufwand“ ]]> Konsolenspiel Soul Calibur II Ubisoft hat also nicht vor , einen spielbaren weiblichen Charakter in ihr neuestes Spiel der Assassin’s-Creed-Reihe einzufügen. Das ist bedauerlich. Nicht nur, weil so dem ohnehin vermutlich lauwarmen Aufguss eines alten Franchise die Chance genommen wird, wirklich so revolutionär zu sein, wie es sich gerne gibt . Sondern auch, weil wieder einmal Lügen erzählt werden, um unpopuläre (sic!) Entscheidungen zu rechtfertigen.

Das Märchen vom Mehraufwand

Ich habe eine Weile in einer Spieleschmiede gearbeitet. Das ist schon etwas her, aber allzu sehr dürften sich die Aufgaben nicht geändert haben: Sehr grob gesagt umfasst das Design die Gestaltung der Umgebung, der spielbaren Chars und der NSCs einschließlich der Texturen und der Animationen. Hinzu kommt natürlich die Programmierung der Welt an sich, wofür ich kein Fachmensch bin, die Story und damit einhergehend das Leveldesign.

Was hätte sich durch einen weiblichen Charakter geändert? Die Programmierung, einen der massivsten Batzen bei der Spieleentwicklung, hätte man wohl kaum angehen müssen. Die Grafik, nicht wahr? Denn Frauen sehen doch ganz anders aus, vor allem in Videospielen! Gut, schauen wir uns doch die Grafik an: Da haben wir Texturen für diverse Kostüme. Ja, die hätte man ändern müssen. Tiefe Ausschnitte müssten her. Das Kostüm müsste Bein zeigen. So will es die männliche Käuferschaft. Und warum nicht noch einige Arbeitstage darauf verwenden, die Brüste extra zu animieren ?

Und dann stellen sich unvermeidlich auch einige Fragen außerhalb der reinen Erscheinung. Könnte der weibliche Charakter die gleichen Waffen und Rüstungen tragen wie der männliche? Vermutlich nicht, Frauen sind doch schwächer als Männer. Dafür aber schneller, das weiß man doch. Also müsste man auch hier Anpassungen vornehmen. Und natürlich müsste ein weiblicher Charakter auch in den Bewegungen sexy sein. Die Hüften schwingen. Feminine Dinge in den Idle-Animationen machen, zum Beispiel sich gelangweilt die Fingernägel lackieren oder die Frisur richten…

Und das alles muss doch eine Menge Geld kosten!

Frauen, die Menschen sind

Und was, wenn das alles so nicht sein müsste? Was, wenn eine Frau, die ihr Leben mit dem Meucheln von Menschen zubringt, mit Kampf und Athletik, nicht ganz so sehr aussähe wie der feuchte Traum eines heterosexuellen Mannes , sondern wie ein sportlicher Mensch ? Was, wenn sie sich nicht bewegen würde wie eine Stripperin, sondern wie jemand, die gelernt hat, unauffällig zu sein, sich anzupassen? Was, wenn die Kostüme nicht erst von Fans in Fanblogs repariert werden müssten , weil sie dank ihrer Ausschnitte und sexy Gucklöcher als Rüstung vollständig dysfunktional sind? Was, wenn Frauen, analog zum berühmten Zitat von Rebecca West, radikalerweise nicht als weibliche Objekte, die besonders behandelt und ausstaffiert werden müssen, sondern als Menschen dargestellt würden? Nehmen wir das als Grundlage, ist eine Erweiterung um eine spielbare Protagonistin wesentlich weniger aufwändig, als uns die Spieleindustrie gern glauben machen will.

Dennoch: Trotz des widrigen Umstandes, dass Frauen nur 4% der spielbaren Charaktere ausmachen, stellen sie 45% der Spieler*innen . Und wir wären sicher noch begeisterter, könnten wir uns besser mit unseren Chars identifizieren. Ohne Sonderbehandlung als Ms. Male Character , ohne sexy Rüstungen, ohne Einschränkungen.

Wir wollen spielen!

Nachtrag vom 14.06.2014: Offenbar hat der Entwickler Jonathan Cooper, der selbst an einigen Ubisoft-Titeln mitgearbeitet hat, einiges zu der Behauptung seines Ex-Arbeitgebers zu sagen. Laut seinen Tweets gab es bereits spielbare Testversionen eines weiblichen Charakters in Assassin’s Creed Unity. Er fügt seiner Stellungnahme hinzu, dass nur wenige Schlüsselsequenzen ausgetauscht werden müssten, was einem Aufwand weniger Entwicklertage entspricht – eine geradezu lächerlich kleine Zeitspanne, verglichen mit der Gesamtentwicklungsdauer eines Spiels. Jonathan Cooper spricht auch an, dass das Modellieren und Voice Acting natürlich zusätzlichen zeitlichen Aufwand bedeutet hätten. Dass dies aber analog zur Gestaltung und dem Einsprechen von männlichen Charakteren zu sehen ist, ist klar.

Die ganze Geschichte, einschließlich der Tweets des Entwicklers, findet ihr in dem Artikel von The Mary Sue .

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Unser Ticket für Brasilien /unser-ticket-fuer-brasilien/ /unser-ticket-fuer-brasilien/#respond Sun, 01 Jun 2014 14:50:56 +0000 /?p=904 Continue reading Unser Ticket für Brasilien ]]> Das ist ein Artikel von Oecan. Auf Twitter findet ihr ihn unter @oecan_ , wo er unter anderem zu Feminismus und Umweltthemen postet. Er ist gelernte Linguste mit einer Schwäche für Rechtschreibung.

Am 12. Juni beginnt die Fußball-Weltmeisterschaft der Männer in Brasilien. Sie ist im Land umstritten. Viele Brasilianer*innen freuen sich darauf, aber es gab und gibt auch starke Proteste . Das Land hat die sechstgrößte Wirtschaft der Welt, doch die Unterschiede zwischen Armen und Reichen sind groß. Die Protestierenden sind der Meinung, dass die Milliarden Euro, die für den Bau von Stadien ausgegeben werden, besser in die Bildungs- und Gesundheitssysteme des Landes investiert gewesen wären . Diese Systeme benachteiligen arme Menschen, die sich private Vorsorge und Privatschulen nicht leisten können.

Mir persönlich war die WM lange gleichgültig bis unsympathisch. Von den Protesten in Brasilien habe ich zunächst wenig mitbekommen. Ich hatte einfach keine Lust auf patriotisches Gejubel und Schwarz-Rot-Gold. Seit der WM 2006 in Deutschland, bei der das ausgelassene Fahnenschwingen wieder üblich wurde, hatten wir eine ganze Menge davon in den letzten Jahren, und ich bin es leid. Die Europawahl hat deutlich gezeigt, dass der Nationalismus in Europa stärker wird, und mir sind Rufe wie „Schland, Schland“ oder „Allez les Bleu“ verdächtig.

fussball

Trotzdem: Ich mag Fußball. Ich schaue es gern. Ich mag es auch, mich mit einer Mannschaft zu identifizieren und mitzufiebern. Es muss auch nicht immer die deutsche sein. Und so entwickle ich doch allmählich eine gewisse Vorfreude. Es ist lange nicht genug, um nach Brasilien zu fahren und dort dabeizusein, aber ich bin ziemlich sicher, dass ich mir einige (viele ;-)) Spiele im Fernsehen ansehen werde.

Und hier hatten TQ und ich eine Idee. Auch wir kaufen uns Tickets für Brasilien! Wie die Fans, die zum Spiel ins Stadion gehen. Aber im Unterschied zu den FIFA-Tickets, von deren Einnahmen die Brasilianer*innen wenig haben, wollen wir versuchen, unser Geld den Menschen in Brasilien zugutekommen zu lassen, die es am dringendsten brauchen. Es ist der Versuch, einen Ausgleich zu schaffen dafür, dass nicht sie, sondern wir von der Ausrichtung der WM im Land profitieren. Zum Beispiel wurde in der Hauptstadt Brasilia ein großes Stadion gebaut, das nach der WM leerstehen wird, weil es dort keine Erst- oder Zweitligamannschaften gibt. Andere Arenen, gerade erst modernisiert, wurden aufgrund von FIFA-Auflagen erneut umgebaut. Eine U-Bahn ist in einem reichen Viertel von Rio de Janeiro entstanden, während der Nahverkehr aus den armen Vororten überlastet ist.

Wir sind uns bewusst, dass Spenden aus der Ferne problematisch sind und übergriffig und von oben herab wirken können. Wir haben daher nach Organisationen gesucht, die in Brasilien arbeiten, um das Leben armer Menschen dort zu verbessern. Gefunden haben wir diese beiden Organisationen:

Brazil Foundation

Monte Azul Brasilien

Wollt ihr auch ein Ticket für Brasilien? Das ist großartig! Und sehr einfach: Bitte spendet einen Betrag, den ihr für ein Fußballticket für angemessen haltet, oder den ihr euch leisten könnt. Was ein WM-Ticket wirklich kostet, ist gar nicht so leicht rauszukriegen, aber 50 Euro für eine Spende ist unser Vorschlag für Menschen, die sich das leisten können, und entsprechend weniger für die, die die gute Sache unterstützen wollen, obwohl sie nicht so viel geben können.

Anschließend könnt ihr euch den „Ticket für Brasilien“-Sticker herunterladen und selbst einbauen:

Banner zum selbst einbauen.
Sticker zum selbst einbauen.
Icon "Unser Ticket für Brasilien"
Das PNG als Overlay für den Avatar.

Oder ihr könnt ihn hier automatisch eurem Twitter- oder Facebook-Avatar hinzufügen lassen .

Und wenn euch jemand danach fragt, was das bedeutet, verlinkt einfach hierher. Dankeschön, und viel Spaß bei der WM :-))

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Das war schon immer so!? – Teil 1: Grundlagen /grundgedanken-archaeologie-gender/ /grundgedanken-archaeologie-gender/#comments Thu, 27 Mar 2014 11:13:32 +0000 /?p=155 Continue reading Das war schon immer so!? – Teil 1: Grundlagen ]]> Wer sich mit Geschlechterrollen auseinandersetzt, stößt schnell auf biologistische Erklärungsmuster dafür, warum sich diese so entwickelt haben: Historische oder archäologische „Fakten“ werden nicht nur gerne herangezogen, um zu beweisen, dass die Geschlechterrollen schon immer genauso verteilt waren, wie wir sie jetzt kennen – sondern auch um zu verschleiern, dass bestimmte Kulturtechniken von beiden Geschlechtern erlernt und ausgeübt werden könnten. Somit erscheinen sogenannte „männliche“ und „weibliche“ Fähigkeiten als naturgegeben. Hier wird also von einer Vererbung von Kulturtechniken ausgegangen anstatt von menschengemachten Ideen und Diskursen über Geschlechterrollen. Es wird zum Beispiel gerne behauptet, dass Männer einen besseren Orientierungssinn haben, weil sie in der Steinzeit Großwild gejagt hätten, dass Frauen gerne einkaufen, weil sie in der Steinzeit Nahrung gesammelt hätten oder dass sie so viel reden, weil sie den ganzen Tag in der Höhle saßen und nichts zu tun gehabt hätten (außer Haushalt und Kindern…).

Quelle: http://naturespicwallpaper.com/lascaux-cave-paintings-free-wallpapers-hd/

Ich möchte in dieser Archäologieserie zeigen, dass das Bild wesentlich differenzierter ist und dass pauschale Aussagen über Geschlecht und Geschlechterrollen nicht haltbar sind. In diesem einleitenden Artikel geht es um die grundlegende Frage der Perspektive, weitere Beiträge werden in unregelmäßigen Abständen folgen.

Geschichtliche Hintergründe, Interpretationen und Vorannahmen

Die prähistorische Archäologie etablierte sich als akademische Disziplin in der zweiten Hälfte des 19. Jh., also zu einer Zeit, in der nur zwei sich diametral gegenüberstehende Geschlechter akzeptiert wurden, die gesellschaftlich getrennt und in ihren Rollen stark festgelegt waren. Zudem bestanden konkrete Zuschreibungen zu den Geschlechtern bzw. zu „männlichen“ und „weiblichen“ Eigenschaften. Die Einteilung von Grabfunden erfolgte primär über die Kategorien „männlich“ und „weiblich“ und es entstand das Modell, dass in der prähistorischen Archäologie großteils bis heute verwendet wird. Es ist wichtig, archäologische Interpretationen vor diesem Hintergrund zu sehen, genauso wie es generell wichtig ist, wissenschaftliche Erkenntnisse im Kontext ihrer Zeit zu sehen. Da wir alle von Zeitgeist und Gesellschaft geprägt sind, gibt es auch in der Wissenschaft keine wirkliche Objektivität. Wir finden am ehesten, was wir suchen und wir erkennen am einfachsten, was wir bereits kennen. So ist es kein Wunder, dass in der prähistorischen Archäologie (implizit) von ihrem Anfang im 19. Jh. an bestimmte Rollenverteilungen und die (bürgerliche) Kleinfamilie als Standard vorausgesetzt wurden, die im erstarkenden Bürgertum an Popularität gewann. Unser Weltbild beeinflusst unsere Interpretationen. Das geht uns allen so, wird immer so sein und ist auch nicht per se ein Problem, solange wir uns dessen bewusst sind und einige Dinge beachten:

1. Als Lesende*r müssen wir uns (wie bereits gesagt) klar machen, dass wir Interpretationen immer im gesellschaftlichen und historischen Kontext sehen müssen und dass sie immer nur so weit gehen, wie die*der Interpretierende zu denken fähig ist. Auch die Frage, welchen Zweck die jeweilige Literatur erfüllen soll, ist nicht zu unterschätzen. Als drastischstes Beispiel wäre hier archäologische bzw. historische Fachliteratur aus der NS-Zeit zu nennen, deren Inhalt auf propagandistische Zwecke zugeschnitten war. Unter anderem wollten die Archäolog*innen eine durchgängige Ahnenlinie zwischen den German*innen und den Deutschen nachweisen, was nicht zuletzt zur Legitimation von Gebietsansprüchen genutzt werden sollte.

Wir müssen außerdem bedenken, dass Forschungsergebnisse oft temporär sind und nach einigen Jahrzehnten in Frage gestellt oder sogar völlig verworfen werden. Ein gutes Beispiel dafür ist die Moorleiche, die nach ihrem Auffinden in den 1950er Jahren als „Mädchen von Windeby“ bezeichnet wurde. Aufgrund einer Geste (der sogenannten „Feigenhand“) wurde sie vom zuständigen Archäologen als Ehebrecherin interpretiert. Bei DNA-Analysen 2006 stellte sich heraus, dass es sich mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit um ein männliches Individuum handelt und die „Feigenhand“ erwies sich als nachträgliche Manipulation.

2. Als Interpretierende*r / Schreibende*r ist es wichtig, unsere Ausgangsposition für uns zu formulieren und für andere offen zu legen. Denn ein großes Problem ist, dass bestimmte Vorannahmen nicht kommuniziert oder diskutiert, sondern stillschweigend vorausgesetzt werden. Dazu gehört nicht nur die bereits genannte Voraussetzung der Kleinfamilie in archäologischen Kontexten, sondern zum Beispiel auch die feststehende Annahme, dass Waffen männliche Attribute sind und in Form von Beigaben als Indikatoren für Männergräber herangezogen werden können. (Mehr dazu im nächsten Artikel dieser Serie.)

pfeile-schmal2 Der zweite Punkt betrifft mich als Schreibende natürlich ebenso wie alle anderen. Meine Ausgangsposition ist aktuell folgende: Ich bin prähistorische Archäologin und habe einen genderwissenschaftlichen Schwerpunkt. Ich gehe davon aus, dass archäologisch nachweisbare Gesellschaften komplex und divers sind (ebenso wie unsere Gesellschaft), was dazu führt, dass mir Ausnahmen in archäologischen Befunden viel eher und viel positiver auffallen als traditionell geprägten Forscher*innen. Ebenso kann ich mir nicht vorstellen, dass immer und zu jeder Zeit ausnahmslos gleiche Geschlechterrollen vorherrschten – und daher versuche ich z.B. nicht, eine Frauenbestattung mit Schwert auf Biegen und Brechen zu einer Männerbestattung umzudeuten oder den möglichen Gebrauch des Schwertes wegzuargumentieren (auch dazu später mehr). Ich nehme zunächst keine Aufgabenteilung nach Geschlecht an. Außerdem suche ich explizit nach Ausnahmen von dem, was als Nachweis für traditionelle Rollenverteilung interpretiert werden kann und somit nach Belegen für die von mir angenommene Diversität. Das färbt meine Untersuchungen auf bestimmte Weise ein – auf andere Weise als Untersuchungen von traditionell geprägten Archäolog*innen. Ich versuche nicht, Ausnahmen wegzuargumentieren oder aus statistischen Gründen unter den Tisch fallen zu lassen – denn es geht nicht um eine Statistik, sondern um (vergangene) Lebensrealitäten und darum, ein möglichst umfassendes Bild der jeweiligen Gesellschaft zu rekonstruieren.

Links und weiterführende Literatur

  • Karlisch, Sigrun M./ Kästner, Sibylle/ Mertens, Eva-Maria (Hrsg.): Vom Knochenmann zur Menschenfrau. Feministische Theorie und archäologische Praxis . Münster 1997
  • Fries, Jana Esther / Rambuschek, Ulrike / Schulte-Dornberg, Gisela (Hrsg.): Science oder Fiction? Geschlechterrollen in archäologischen Lebensbildern. Münster 2007
  • Bernbeck, Reinhard: Theorien in der Archäologie . Tübingen und Basel 1997
  • Geringer, Sandra / Halle, Uta (Hrsg.): Graben für Germanien. Archäologie unterm Hakenkreuz. Stuttgart 2013
  • Die Moorleiche von Windeby auf Spiegel Online und in der Wikipedia
  • FemArc – Netzwerk archäologisch arbeitender Frauen

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