Als „Amazonengräber“ werden Gräber von anthropologisch als weiblich bestimmten Kriegerinnen in Osteuropa bezeichnet. Die Gräber werden aufgrund ihrer geografischen Lage und bestimmter schriftlicher Überlieferungen – z.B. durch Herodot und Hippokrates – der skythischen (8. – 3./2. Jh. v. Chr.) und der sauromatischen Kultur (6. – 4. Jh. v. Chr.) zugeordnet, wobei die höhere Anzahl auf die sauromatische Region entfällt, was ebenfalls zu den schriftlichen Überlieferungen passt.
Ob es sich bei diesen Gräbern wirklich um die durch Erzählungen antiker Autoren überlieferten Amazonen handelt, lässt sich nicht vollständig klären. Aber es gibt verschiedene schriftliche Überlieferungen, mit denen archäologische Funde der entsprechenden Regionen in Verbindung gebracht werden können. Mir kommt es in diesem Artikel aber gar nicht darauf an, ob es sich hier tatsächlich um „Amazonen“ handelt und ob sich die Gräber in einen mythischen oder historischen Zusammenhang bringen lassen. Deswegen möchte ich die Hinweise darauf hier auch gar nicht weiter aufdröseln und verwende den Begriff in Anführungszeichen als Kennzeichen dafür, dass es sich bereits um eine Interpretation handelt. Worum es mir vorrangig geht, ist die Tatsache, dass sich Frauenbestattungen mit Waffenbeigaben nachweisen lassen. Im zweiten Teil dieser Reihe hatte ich einen der zentralen Zirkelschlüsse in der Archäologie behandelt, der es stark erschwert, Kriegerinnen zu erkennen.
Grabbeigaben und Geschlecht
Zu den für die skythische Kultur typischen Grabbeigaben gehören Gegenstände oder Kombinationen von Gegenständen, die in der archäologischen Forschung als geschlechtsspezifisch gelten: Für Frauenbestattungen werden Spiegel, Spinnwirtel, Schminke und paarweise beigegebene Ohrringe als typisch angesehen, für Männerbestattungen Waffen, einzeln beigegebene Ohrringe und das Fehlen von Spinnwirteln.
Leider ist nur selten klar, unter welchen Umständen die Grundlagen für diese Zuordnungen gemacht wurden. Da anthropologische Untersuchungen erst so spät unternommen wurden, dass zuvor archäologisch bestimmte Bestattungen im Nachhinein umbestimmt werden mussten, ist es wahrscheinlich, dass allen usprünglichen Untersuchungen zu den Beigaben die archäologische Geschlechtsbestimmung zugrunde lag (was ich im vorigen Artikel bereits beschrieben hatte). Und da die archäologische Geschlechtsbestimmung den Zirkelschluss (Mann = Schwert = Mann) beinhaltet, ist nicht klar, ob die Beigaben, die in der Forschung als Indiz für entweder weibliche oder männliche Bestattete gelten, tatsächlich als Indiz gewertet werden sollten. Es ist sehr wahrscheinlich, dass es sich um eine Projektion von Erwartungen und Vorstellungen der Forschenden auf eine vergangene Kultur handelt. Es ist außerdem grundlegend fraglich, ob die Unterschiede in den Grabbeigaben überhaupt einen Zusammenhang mit dem Geschlecht haben, also tatsächlich auf Geschlechterunterschiede bzw. verschiedene Geschlechteridentitäten zurückzuführen sind oder ob die Verteilung andere Gründe hat.
Interessant sind die sogenannten Mischinventare, in denen sowohl Gegenstände vorkommen, die in der Forschung mit Männergräbern assoziiert werden als auch Gegenstände oder bestimmte Kombinationen, die als Indizien für Frauengräber gelten – und genau diese Mischinventare zeichnen die „Amazonen“-Gräber aus. Den anthropologischen Befunden nach zu urteilen sind Mischinventare bisher nur für als weiblich bestimmte Individuen bekannt – und zwar interessanterweise nur für diejenigen, bei denen “starke weibliche Merkmale am Skelett” (Rolle 1986, 54) erkennbar waren. Das heißt, dass sich vielleicht sogar eine größere Anzahl Kriegerinnen in den Bestattungen verbirgt, da Skelette mit weniger ausgeprägten Merkmalen möglicherweise falsch bestimmt wurden. Ein intensives Reit- und Kampftraining kann außerdem Veränderungen am Skelett bewirkt haben, die unter Umständen ebenfalls zu Fehlbestimmungen führen. (Auch das zeigt wieder, dass unsere Vorstellungen von „männlich“ und „weiblich“ Einfluss auf wissenschaftliche Untersuchungen haben und dass es auch in der Wissenschaft mit der Objektivität schwierig ist.)
Die Interpretationsmöglichkeiten gehen in unterschiedliche Richtungen. Es ist denkbar, dass wir hier Frauen in Männerrollen vor uns haben (sozialer Geschlechterrollenwechsel ), dass es sich um eine Abweichung von zwei gesellschaftlich akzeptierten Kategorien handelt, dass wir es mit einer dritten Geschlechtskategorie zu tun haben, wie sie z. B. aus verschiedenen ethnologischen Forschungen bekannt ist, oder dass die Geschlechterrollen flexibler waren als klassischerweise in der Archäologie angenommen wird. Es kann aber ebenso gut sein, dass die Funktion der „Amazonen“ als Kriegerinnen mit dem Geschlecht nichts zu tun hatte. Wir wissen nicht mit Sicherheit, welche Definition von „männlich“ und „weiblich“ (und möglicherweise weiteren Geschlechskategorien) die skythischen und sauromatischen Gruppen hatten und welche Geschlechterrollen und -identitäten es in den entsprechenden Kulturen/Gruppierungen gab. Dementsprechend können wir weder von einem Rollenwechsel ausgehen, der feste Geschlechterrollen voraussetzen würde, noch von einer Trans*-Identität, die das Vorhandensein von binären Geschlechtsidentitäten voraussetzen würde. Eine dritte Geschlechterkategorie ist ebenso denkbar wie die absolute Unwichtigkeit des Geschlechts für die Funktion als Krieger*in.
Die Kriegerinnengräber
Auf antiken bildlichen Darstellungen der Amazonen werden diese häufig mit Streitäxten gezeigt.
Während Renate Rolle 1986 schrieb, dass materielle Belege für Streitäxte in Frauengräbern nur eine Frage der Zeit sein können, ist inzwischen eine Streitaxt als Beigabe aus einem Grab mit einer anthropologisch als weiblich bestimmten Bestatteten belegt: Als “Amazone von Pazyryk” wird eine junge Frau bezeichnet, die im Kurgan (Grabhügel) 1 im Grabkomplex von Ak-Alacha 1 im Hochaltai bestattet wurde und deren Bestattungsumstände auch ansonsten sehr interessant sind: Es handelt sich hierbei um eine Doppelbestattung der etwa 16-17 Jahre alten Frau und eines etwa 45-50 Jahre alten Mannes, der an Morbus Bechterew gelitten hatte. Die beiden wurden in getrennten Holzsärgen bestattet, beide hatten neben anderen Beigaben jeweils einen Eisendolch, eine eiserne Streitaxt bzw. Streithammer mit Holzgriff, einen nur fragmentarisch erhalteten Köcher mit Pfeilspitzen und Teile eines hölzernen Bogens in unmittelbarer köperlicher Nähe. Zudem fanden sich in beiden Särgen Gürtelschnallen, die erwähnenswert sind, weil innerhalb der Pazyryk-Kultur nur Krieger Gürtel mit Schnallen besaßen. In einem eigenen Grabkammerabschnitt wurden mehrere Pferde bestattet, die wohl zu diesem Anlass getötet wurden, wie die von Streitpickeln eingeschlagenen Schädel annehmen lassen. Dieser Umstand weist zusammen mit vielen anderen reichen Beigaben auf einen hohen Status der Bestatteten innerhalb ihrer Gesellschaft hin. Da die Erkrankung des Mannes nachweislich die gesamte Wirbelsäule stark einschränkte und er nicht eigenständig aufs Pferd steigen konnte, wird die junge Frau als seine Gehilfin und Beschützerin interpretiert, was durch ihre Körperbeschaffenheit und gut entwickelte Muskulatur gestützt wird. Eine beginnende Deformation ihrer Knochen weist darauf hin, dass sie an der gleichen genetisch vererbbaren Krankheit in einem frühen Stadium litt, was ein Verwandtschaftsverhältnis der beiden annehmen lässt. Beide Verstorbenen wurden nicht einfach nebeneinander, sondern gleichzeitig bestattet. Die Todesursache des Mannes mag seine Erkrankung gewesen sein, die Todesursache der jungen Frau ist bisher nicht geklärt. Es ist möglich, dass sie ihm als seine Beschützerin / Gehilfin in den Tod folgen musste oder wollte, allerdings sind zumindest am Knochenmaterial keine Spuren von Gewaltanwendungen gefunden worden.
Im Gebiet der sauromatischen Kultur wurden nach der Archäologin Renate Rolle etwa 20% der Bestatteten mit Waffen und Pferdegeschirr anthropologisch als weiblich bestimmt (Stand 1986). Was die Waffen angeht, herrschen hier vor allem Pfeil und Bogen vor.
Aus der skythischen Region sind ebenfalls zahlreiche Frauengräber mit Waffenausstattung bekannt. Es fanden sich um die 130 Gräber im Süden der Ukraine, in denen Kriegerinnen bestattet wurden und die alle ins 5./4. Jh v. Chr. datieren (Stand 2010). Wie es in anderen Regionen zahlenmäßig genau aussieht und wie die Verteilung zeitlich insgesamt ist, ist aus der mir vorliegenden Literatur nicht ersichtlich. Prozentuale Angaben für Skythien fehlen, ebenso wie andersherum die genauen Zahlen aus dem sauromatischen Gebiet. Die Vielfalt der Waffenbeigaben ist in der skythischen Region größer und es finden sich zum Teil auch Kombinationen unterschiedlicher Waffen, was für die Beherrschung unterschiedlicher Kampfarten sprich. Gefunden wurden Lanzen, Wurfspieße, Schwerter, Dolche, Pfeile, Köcherreste, zudem verschiedene Schutzrüstungsteile wie Schuppenpanzer und metallverstärkte Kampfgürtel.
An dieser Stelle möchte ich in Erinnerung rufen, dass niemand sich selbst bestattet. Bestattungen geschehen im gesellschaftlichen Kontext und Konsens. Das ist deswegen interessant, weil wir davon ausgehen können, dass die “Amazonen” in ihrer Rolle und/oder Funktion akzeptiert wurden. Renate Rolle erwähnt immer wieder, dass „Amazonen“ aus (fast) allen sozialen Schichten bekannt sind und bezieht sich dabei auf den Ausstattungsreichtum der Gräber. Sie stellt aber auch heraus, dass „Amazonen“-Bestattungen meistens entweder Einzelbestattungen sind oder aber im Falle von Mehrfachbestattungen die Hauptbestattung darstellen und keine spätere Nachbestattung – das heißt, das Grab wurde für sie angelegt. Auch dieser Umstand kann einen Hinweis auf sozialen Status geben. Insofern ist denkbar, dass ein gewisses Ansehen mit ihrer Rolle/Funktion einhergegangen sein könnte, dass sie also nicht nur akzeptiert, sondern auch geschätzt wurden.
Waffen – tatsächlich benutzt?
Bei Schwertbeigaben in Männergräbern kommt niemand in der archäologischen Forschung auf die Idee, zu postulieren, dass das Schwert nicht von dem hier bestatteten Mann benutzt wurde und dass die Beigabe andere Gründe hatte (es sei denn, das Schwert ist aus Gold, hat keinerlei Gebrauchsspuren, und/oder ist eindeutig nicht funktional – dann wird es als Statussymbol oder Herrschaftsinsigne angesprochen).
Aber bei Frauengräbern mit Schwertern werden keine Mühen gescheut, andere Eklärungen zu finden – und scheinbar wird die Absurdität oft nicht einmal bemerkt. Da gibt es die (beliebte) Annahme, das rituelle Gründe bestehen. Oder die Leichname der Männer, die eigentlich hier bestattet werden sollten, waren nicht verfügbar und mussten durch Frauen ersetzt werden. Oder die Frauen bekamen die Waffen ihrer Väter / Brüder / anderer männlicher Verwandter mit ins Grab. Oder die Waffe im Grab der Frau war ein Geschenk ihres Ehemanns. Oder es könnte sich statt um Frauen um Enarer handeln: Männer, die für die Plünderung eines Aphrodite-Heiligtums von der Göttin mit einem “Frauenleiden” bestraft wurden.
Das alles klingt auf Anhieb sofort viel plausibler als der Gebrauch der Waffen durch Frauen, oder?! (Leider sind das alles ernst gemeinte Vorschläge, wenn auch nicht alle für diese Region und diese Zeit.)
Die anthropologischen Befunde zeigen deutlich, dass die Waffen benutzt wurden und dass die bestatteten “Amazonen” an Kampfsituationen beteiligt waren. So ist z.B. die Beanspruchung durch kontinuierliches Bogenschießen anhand von Verschleißerscheinungen an zwei Fingern der rechten Hand einer Bestatteten aus der Nekropole des Certomlyk-Kurgans (Kurgan 11, Bestattung 2) in der heutigen Ukraine belegt. Eine dreiflügelige bronzene Pfeilspitze war wahrscheinlich die Todessursache einer verhältnismäßig jungen Frau aus der gleichen Nekropole (Kurgan 9, Bestattung 2). Eine 30 bis 40 Jahre alte Frau, die unter anderem mit einer Lanze und einem Eisenmesser in Grusinien (entspricht geografisch dem antiken Kolchis) bestattet wurde, weist eine schwere Verletzung an der linken Schädelseite auf. Diese ist nach Meinung des Ausgräbers als Folge eines Schlags oder Stichs anzusehen und hatte vor ihrem Tod bereits begonnen, auszuwachsen – das heißt, die Bestattete hat diese Verwundung noch eine ganze Weile überlebt. Vergleichbare und weitere Verletzungen finden sich noch an weiteren Skeletten aus anderen Gräbern. Altersmäßig überwiegen jüngere “Amazonen”, was zusammen mit den Verletzungen für einen frühen Tod im Kampf spricht.
Für Schutzrüstungen, die im skythischen Gebiet nachgewiesen werden konnten, wurde übrigens früher in der archäologischen Forschung angenommen, dass Frauen sie aufgrund ihres Gewichts nicht tragen konnten – inzwischen gibt es sowohl Belege für die Nutzung durch anthropologisch als weiblich bestimmte Individuen als auch Belege durch experimentelle Versuche.
Tl; dr
Es gab Personen, die körperlich unserer Definition von “weiblich” entsprachen, aber mit Beigaben bestattet wurden, die in der archäologischen Forschung männlich konnotiert sind. Das wird eventuell als Diskrepanz wahrgenommen – die allerdings nur mit den Erwartungshaltungen und tradierten Denkweisen der Interpretierenden zu tun hat. Es läuft alles darauf hinaus, dass wir zwei konstruierte Kategorien haben, die in der Forschung früher niemals miteinander verknüpft wurden und so nicht in das Bild der traditionellen archäologischen Forschung passen. „Amazonen“-Gräber sind komplexe Bestattungen, die traditionelle Sichtweisen herausfordern und die uns zeigen, dass die bisherigen archäologischen Interpretationen zu wenig Möglichkeiten in Betracht ziehen und dass die archäologische Forschung ihr Weltbild öffnen muss. Unklar bleibt, wie viele anthropologisch als „weiblich“ bestimmbare Individuen mit Waffenbeigaben aufgrund der Beigaben als „männlich“ interpretiert wurden, weil die anthropologischen Bestimmungen nicht durchgeführt wurden. Es ist möglich, dass es viele weitere Gräber von Kriegerinnen oder Jägerinnen gibt, die nicht erkannt wurden. Aber selbst, wenn es sich dabei um Ausnahmen handelt, sind diese wichtig für ein differenziertes Bild der jeweiligen Gesellschaft. Mit jeder übersehenen oder für unwichtig befundenen und daher ignorierten Ausnahme wird ein Bild von Geschlechterrollen und -verhältnissen der Vergangenheit gefestigt, das wegen genau dieser Ausnahme überdacht werden müsste. Wir schaffen uns durch eingeschränkte Interpretationen eingeschränkte Vorstellungen von Rollenbildern in der Geschichte, und übertragen diese dann auf die Gegenwart. Statt dessen muss (nicht nur) die archäologische Forschung ihren Blick schärfen für die eigene Interpretationsbasis, für Verzerrungen und Vereinfachungen, die weder der Vergangenheit noch unserer gelebten Realität gerecht werden.
Ideal wäre es, für anstehende Untersuchungen keine bestimmte Anzahl von Geschlechterkategorien anzunehmen und für Gesellschaftsmodelle offen zu sein, die von unseren bekannten abweichen.
Literaturauswahl
Karlisch, Sigrun M. et al. (Hrsg.):
Vom Knochenmann zur Menschenfrau. Feministische Theorie und archäologische Praxis
. Münster 1997
(Zu Geschlechterforschung in der Archäologie und der allgemeinen Problematik von Beigaben und Geschlecht)
Parzinger, Hermann
:
Die Skythen
. 2. Auflage, München 2004
(Allgemeines zu den Skythen, nur wenig zu den “Amazonen”)
Rolle, Renate
:
Die Welt der Skythen
. Frankfurt / Main 1980
(Schöner kleiner Band mit vielen Bildern, hauptsächlich zu den Skythen allgemein)
Rolle, Renate
:
Amazonen in der archäologischen Realität
. In: Kreutzer, Joachim (Hrsg):
Kleist-Jahrbuch
. Berlin 1986, S. 38 – 62
(Wichtiger und wegweisender Artikel zur archäologischen Forschung der „Amazonen“. Verknüpfung von Mythologie und schriftlicher Überlieferung mit den archäologischen Befunden, grundlegende Informationen zu den archäologischen Befunden, Mischinventaren, Interpretation der Gräber, Benutzung der Waffen etc…)
Historisches Museum der Pfalz Speyer (Hrsg.)
:
Amazonen – Geheimnisvolle Kriegerinnen
. München 2010, S. 178-181
(Ausstellungskatalog mit Essays zu verschiedenen Themenkomplexen. Mehrere Artikel von Renate Rolle, die als Ergänzung / Update zu ihrem Artikel von 1986 wichtig sind. Außerdem Infos zur Amazone von Pazyryk und Belege für Lamellenrüstungen)
Übrigens: Ausdrücklich nicht empfehlenswert finde ich Die verlorene Geschichte der Amazonen von Gerhard Pöllauer. An den Haaren herbeigezogen und totale Zeitverschwendung.