Ob es sich bei diesen Gräbern wirklich um die durch Erzählungen antiker Autoren überlieferten Amazonen handelt, lässt sich nicht vollständig klären. Aber es gibt verschiedene schriftliche Überlieferungen, mit denen archäologische Funde der entsprechenden Regionen in Verbindung gebracht werden können. Mir kommt es in diesem Artikel aber gar nicht darauf an, ob es sich hier tatsächlich um „Amazonen“ handelt und ob sich die Gräber in einen mythischen oder historischen Zusammenhang bringen lassen. Deswegen möchte ich die Hinweise darauf hier auch gar nicht weiter aufdröseln und verwende den Begriff in Anführungszeichen als Kennzeichen dafür, dass es sich bereits um eine Interpretation handelt. Worum es mir vorrangig geht, ist die Tatsache, dass sich Frauenbestattungen mit Waffenbeigaben nachweisen lassen. Im zweiten Teil dieser Reihe hatte ich einen der zentralen Zirkelschlüsse in der Archäologie behandelt, der es stark erschwert, Kriegerinnen zu erkennen.
Zu den für die skythische Kultur typischen Grabbeigaben gehören Gegenstände oder Kombinationen von Gegenständen, die in der archäologischen Forschung als geschlechtsspezifisch gelten: Für Frauenbestattungen werden Spiegel, Spinnwirtel, Schminke und paarweise beigegebene Ohrringe als typisch angesehen, für Männerbestattungen Waffen, einzeln beigegebene Ohrringe und das Fehlen von Spinnwirteln.
Leider ist nur selten klar, unter welchen Umständen die Grundlagen für diese Zuordnungen gemacht wurden. Da anthropologische Untersuchungen erst so spät unternommen wurden, dass zuvor archäologisch bestimmte Bestattungen im Nachhinein umbestimmt werden mussten, ist es wahrscheinlich, dass allen usprünglichen Untersuchungen zu den Beigaben die archäologische Geschlechtsbestimmung zugrunde lag (was ich im vorigen Artikel bereits beschrieben hatte). Und da die archäologische Geschlechtsbestimmung den Zirkelschluss (Mann = Schwert = Mann) beinhaltet, ist nicht klar, ob die Beigaben, die in der Forschung als Indiz für entweder weibliche oder männliche Bestattete gelten, tatsächlich als Indiz gewertet werden sollten. Es ist sehr wahrscheinlich, dass es sich um eine Projektion von Erwartungen und Vorstellungen der Forschenden auf eine vergangene Kultur handelt. Es ist außerdem grundlegend fraglich, ob die Unterschiede in den Grabbeigaben überhaupt einen Zusammenhang mit dem Geschlecht haben, also tatsächlich auf Geschlechterunterschiede bzw. verschiedene Geschlechteridentitäten zurückzuführen sind oder ob die Verteilung andere Gründe hat.
Interessant sind die sogenannten Mischinventare, in denen sowohl Gegenstände vorkommen, die in der Forschung mit Männergräbern assoziiert werden als auch Gegenstände oder bestimmte Kombinationen, die als Indizien für Frauengräber gelten – und genau diese Mischinventare zeichnen die „Amazonen“-Gräber aus. Den anthropologischen Befunden nach zu urteilen sind Mischinventare bisher nur für als weiblich bestimmte Individuen bekannt – und zwar interessanterweise nur für diejenigen, bei denen “starke weibliche Merkmale am Skelett” (Rolle 1986, 54) erkennbar waren. Das heißt, dass sich vielleicht sogar eine größere Anzahl Kriegerinnen in den Bestattungen verbirgt, da Skelette mit weniger ausgeprägten Merkmalen möglicherweise falsch bestimmt wurden. Ein intensives Reit- und Kampftraining kann außerdem Veränderungen am Skelett bewirkt haben, die unter Umständen ebenfalls zu Fehlbestimmungen führen. (Auch das zeigt wieder, dass unsere Vorstellungen von „männlich“ und „weiblich“ Einfluss auf wissenschaftliche Untersuchungen haben und dass es auch in der Wissenschaft mit der Objektivität schwierig ist.)
Die Interpretationsmöglichkeiten gehen in unterschiedliche Richtungen. Es ist denkbar, dass wir hier Frauen in Männerrollen vor uns haben (sozialer Geschlechterrollenwechsel ), dass es sich um eine Abweichung von zwei gesellschaftlich akzeptierten Kategorien handelt, dass wir es mit einer dritten Geschlechtskategorie zu tun haben, wie sie z. B. aus verschiedenen ethnologischen Forschungen bekannt ist, oder dass die Geschlechterrollen flexibler waren als klassischerweise in der Archäologie angenommen wird. Es kann aber ebenso gut sein, dass die Funktion der „Amazonen“ als Kriegerinnen mit dem Geschlecht nichts zu tun hatte. Wir wissen nicht mit Sicherheit, welche Definition von „männlich“ und „weiblich“ (und möglicherweise weiteren Geschlechskategorien) die skythischen und sauromatischen Gruppen hatten und welche Geschlechterrollen und -identitäten es in den entsprechenden Kulturen/Gruppierungen gab. Dementsprechend können wir weder von einem Rollenwechsel ausgehen, der feste Geschlechterrollen voraussetzen würde, noch von einer Trans*-Identität, die das Vorhandensein von binären Geschlechtsidentitäten voraussetzen würde. Eine dritte Geschlechterkategorie ist ebenso denkbar wie die absolute Unwichtigkeit des Geschlechts für die Funktion als Krieger*in.
Auf antiken bildlichen Darstellungen der Amazonen werden diese häufig mit Streitäxten gezeigt.
Während Renate Rolle 1986 schrieb, dass materielle Belege für Streitäxte in Frauengräbern nur eine Frage der Zeit sein können, ist inzwischen eine Streitaxt als Beigabe aus einem Grab mit einer anthropologisch als weiblich bestimmten Bestatteten belegt: Als “Amazone von Pazyryk” wird eine junge Frau bezeichnet, die im Kurgan (Grabhügel) 1 im Grabkomplex von Ak-Alacha 1 im Hochaltai bestattet wurde und deren Bestattungsumstände auch ansonsten sehr interessant sind: Es handelt sich hierbei um eine Doppelbestattung der etwa 16-17 Jahre alten Frau und eines etwa 45-50 Jahre alten Mannes, der an Morbus Bechterew gelitten hatte. Die beiden wurden in getrennten Holzsärgen bestattet, beide hatten neben anderen Beigaben jeweils einen Eisendolch, eine eiserne Streitaxt bzw. Streithammer mit Holzgriff, einen nur fragmentarisch erhalteten Köcher mit Pfeilspitzen und Teile eines hölzernen Bogens in unmittelbarer köperlicher Nähe. Zudem fanden sich in beiden Särgen Gürtelschnallen, die erwähnenswert sind, weil innerhalb der Pazyryk-Kultur nur Krieger Gürtel mit Schnallen besaßen. In einem eigenen Grabkammerabschnitt wurden mehrere Pferde bestattet, die wohl zu diesem Anlass getötet wurden, wie die von Streitpickeln eingeschlagenen Schädel annehmen lassen. Dieser Umstand weist zusammen mit vielen anderen reichen Beigaben auf einen hohen Status der Bestatteten innerhalb ihrer Gesellschaft hin. Da die Erkrankung des Mannes nachweislich die gesamte Wirbelsäule stark einschränkte und er nicht eigenständig aufs Pferd steigen konnte, wird die junge Frau als seine Gehilfin und Beschützerin interpretiert, was durch ihre Körperbeschaffenheit und gut entwickelte Muskulatur gestützt wird. Eine beginnende Deformation ihrer Knochen weist darauf hin, dass sie an der gleichen genetisch vererbbaren Krankheit in einem frühen Stadium litt, was ein Verwandtschaftsverhältnis der beiden annehmen lässt. Beide Verstorbenen wurden nicht einfach nebeneinander, sondern gleichzeitig bestattet. Die Todesursache des Mannes mag seine Erkrankung gewesen sein, die Todesursache der jungen Frau ist bisher nicht geklärt. Es ist möglich, dass sie ihm als seine Beschützerin / Gehilfin in den Tod folgen musste oder wollte, allerdings sind zumindest am Knochenmaterial keine Spuren von Gewaltanwendungen gefunden worden.
Im Gebiet der sauromatischen Kultur wurden nach der Archäologin Renate Rolle etwa 20% der Bestatteten mit Waffen und Pferdegeschirr anthropologisch als weiblich bestimmt (Stand 1986). Was die Waffen angeht, herrschen hier vor allem Pfeil und Bogen vor.
Aus der skythischen Region sind ebenfalls zahlreiche Frauengräber mit Waffenausstattung bekannt. Es fanden sich um die 130 Gräber im Süden der Ukraine, in denen Kriegerinnen bestattet wurden und die alle ins 5./4. Jh v. Chr. datieren (Stand 2010). Wie es in anderen Regionen zahlenmäßig genau aussieht und wie die Verteilung zeitlich insgesamt ist, ist aus der mir vorliegenden Literatur nicht ersichtlich. Prozentuale Angaben für Skythien fehlen, ebenso wie andersherum die genauen Zahlen aus dem sauromatischen Gebiet. Die Vielfalt der Waffenbeigaben ist in der skythischen Region größer und es finden sich zum Teil auch Kombinationen unterschiedlicher Waffen, was für die Beherrschung unterschiedlicher Kampfarten sprich. Gefunden wurden Lanzen, Wurfspieße, Schwerter, Dolche, Pfeile, Köcherreste, zudem verschiedene Schutzrüstungsteile wie Schuppenpanzer und metallverstärkte Kampfgürtel.
An dieser Stelle möchte ich in Erinnerung rufen, dass niemand sich selbst bestattet. Bestattungen geschehen im gesellschaftlichen Kontext und Konsens. Das ist deswegen interessant, weil wir davon ausgehen können, dass die “Amazonen” in ihrer Rolle und/oder Funktion akzeptiert wurden. Renate Rolle erwähnt immer wieder, dass „Amazonen“ aus (fast) allen sozialen Schichten bekannt sind und bezieht sich dabei auf den Ausstattungsreichtum der Gräber. Sie stellt aber auch heraus, dass „Amazonen“-Bestattungen meistens entweder Einzelbestattungen sind oder aber im Falle von Mehrfachbestattungen die Hauptbestattung darstellen und keine spätere Nachbestattung – das heißt, das Grab wurde für sie angelegt. Auch dieser Umstand kann einen Hinweis auf sozialen Status geben. Insofern ist denkbar, dass ein gewisses Ansehen mit ihrer Rolle/Funktion einhergegangen sein könnte, dass sie also nicht nur akzeptiert, sondern auch geschätzt wurden.
Bei Schwertbeigaben in Männergräbern kommt niemand in der archäologischen Forschung auf die Idee, zu postulieren, dass das Schwert nicht von dem hier bestatteten Mann benutzt wurde und dass die Beigabe andere Gründe hatte (es sei denn, das Schwert ist aus Gold, hat keinerlei Gebrauchsspuren, und/oder ist eindeutig nicht funktional – dann wird es als Statussymbol oder Herrschaftsinsigne angesprochen).
Aber bei Frauengräbern mit Schwertern werden keine Mühen gescheut, andere Eklärungen zu finden – und scheinbar wird die Absurdität oft nicht einmal bemerkt. Da gibt es die (beliebte) Annahme, das rituelle Gründe bestehen. Oder die Leichname der Männer, die eigentlich hier bestattet werden sollten, waren nicht verfügbar und mussten durch Frauen ersetzt werden. Oder die Frauen bekamen die Waffen ihrer Väter / Brüder / anderer männlicher Verwandter mit ins Grab. Oder die Waffe im Grab der Frau war ein Geschenk ihres Ehemanns. Oder es könnte sich statt um Frauen um Enarer handeln: Männer, die für die Plünderung eines Aphrodite-Heiligtums von der Göttin mit einem “Frauenleiden” bestraft wurden.
Das alles klingt auf Anhieb sofort viel plausibler als der Gebrauch der Waffen durch Frauen, oder?! (Leider sind das alles ernst gemeinte Vorschläge, wenn auch nicht alle für diese Region und diese Zeit.)
Die anthropologischen Befunde zeigen deutlich, dass die Waffen benutzt wurden und dass die bestatteten “Amazonen” an Kampfsituationen beteiligt waren. So ist z.B. die Beanspruchung durch kontinuierliches Bogenschießen anhand von Verschleißerscheinungen an zwei Fingern der rechten Hand einer Bestatteten aus der Nekropole des Certomlyk-Kurgans (Kurgan 11, Bestattung 2) in der heutigen Ukraine belegt. Eine dreiflügelige bronzene Pfeilspitze war wahrscheinlich die Todessursache einer verhältnismäßig jungen Frau aus der gleichen Nekropole (Kurgan 9, Bestattung 2). Eine 30 bis 40 Jahre alte Frau, die unter anderem mit einer Lanze und einem Eisenmesser in Grusinien (entspricht geografisch dem antiken Kolchis) bestattet wurde, weist eine schwere Verletzung an der linken Schädelseite auf. Diese ist nach Meinung des Ausgräbers als Folge eines Schlags oder Stichs anzusehen und hatte vor ihrem Tod bereits begonnen, auszuwachsen – das heißt, die Bestattete hat diese Verwundung noch eine ganze Weile überlebt. Vergleichbare und weitere Verletzungen finden sich noch an weiteren Skeletten aus anderen Gräbern. Altersmäßig überwiegen jüngere “Amazonen”, was zusammen mit den Verletzungen für einen frühen Tod im Kampf spricht.
Für Schutzrüstungen, die im skythischen Gebiet nachgewiesen werden konnten, wurde übrigens früher in der archäologischen Forschung angenommen, dass Frauen sie aufgrund ihres Gewichts nicht tragen konnten – inzwischen gibt es sowohl Belege für die Nutzung durch anthropologisch als weiblich bestimmte Individuen als auch Belege durch experimentelle Versuche.
Es gab Personen, die körperlich unserer Definition von “weiblich” entsprachen, aber mit Beigaben bestattet wurden, die in der archäologischen Forschung männlich konnotiert sind. Das wird eventuell als Diskrepanz wahrgenommen – die allerdings nur mit den Erwartungshaltungen und tradierten Denkweisen der Interpretierenden zu tun hat. Es läuft alles darauf hinaus, dass wir zwei konstruierte Kategorien haben, die in der Forschung früher niemals miteinander verknüpft wurden und so nicht in das Bild der traditionellen archäologischen Forschung passen. „Amazonen“-Gräber sind komplexe Bestattungen, die traditionelle Sichtweisen herausfordern und die uns zeigen, dass die bisherigen archäologischen Interpretationen zu wenig Möglichkeiten in Betracht ziehen und dass die archäologische Forschung ihr Weltbild öffnen muss. Unklar bleibt, wie viele anthropologisch als „weiblich“ bestimmbare Individuen mit Waffenbeigaben aufgrund der Beigaben als „männlich“ interpretiert wurden, weil die anthropologischen Bestimmungen nicht durchgeführt wurden. Es ist möglich, dass es viele weitere Gräber von Kriegerinnen oder Jägerinnen gibt, die nicht erkannt wurden. Aber selbst, wenn es sich dabei um Ausnahmen handelt, sind diese wichtig für ein differenziertes Bild der jeweiligen Gesellschaft. Mit jeder übersehenen oder für unwichtig befundenen und daher ignorierten Ausnahme wird ein Bild von Geschlechterrollen und -verhältnissen der Vergangenheit gefestigt, das wegen genau dieser Ausnahme überdacht werden müsste. Wir schaffen uns durch eingeschränkte Interpretationen eingeschränkte Vorstellungen von Rollenbildern in der Geschichte, und übertragen diese dann auf die Gegenwart. Statt dessen muss (nicht nur) die archäologische Forschung ihren Blick schärfen für die eigene Interpretationsbasis, für Verzerrungen und Vereinfachungen, die weder der Vergangenheit noch unserer gelebten Realität gerecht werden.
Ideal wäre es, für anstehende Untersuchungen keine bestimmte Anzahl von Geschlechterkategorien anzunehmen und für Gesellschaftsmodelle offen zu sein, die von unseren bekannten abweichen.
Karlisch, Sigrun M. et al. (Hrsg.):
Vom Knochenmann zur Menschenfrau. Feministische Theorie und archäologische Praxis
. Münster 1997
(Zu Geschlechterforschung in der Archäologie und der allgemeinen Problematik von Beigaben und Geschlecht)
Parzinger, Hermann
:
Die Skythen
. 2. Auflage, München 2004
(Allgemeines zu den Skythen, nur wenig zu den “Amazonen”)
Rolle, Renate
:
Die Welt der Skythen
. Frankfurt / Main 1980
(Schöner kleiner Band mit vielen Bildern, hauptsächlich zu den Skythen allgemein)
Rolle, Renate
:
Amazonen in der archäologischen Realität
. In: Kreutzer, Joachim (Hrsg):
Kleist-Jahrbuch
. Berlin 1986, S. 38 – 62
(Wichtiger und wegweisender Artikel zur archäologischen Forschung der „Amazonen“. Verknüpfung von Mythologie und schriftlicher Überlieferung mit den archäologischen Befunden, grundlegende Informationen zu den archäologischen Befunden, Mischinventaren, Interpretation der Gräber, Benutzung der Waffen etc…)
Historisches Museum der Pfalz Speyer (Hrsg.)
:
Amazonen – Geheimnisvolle Kriegerinnen
. München 2010, S. 178-181
(Ausstellungskatalog mit Essays zu verschiedenen Themenkomplexen. Mehrere Artikel von Renate Rolle, die als Ergänzung / Update zu ihrem Artikel von 1986 wichtig sind. Außerdem Infos zur Amazone von Pazyryk und Belege für Lamellenrüstungen)
Übrigens: Ausdrücklich nicht empfehlenswert finde ich Die verlorene Geschichte der Amazonen von Gerhard Pöllauer. An den Haaren herbeigezogen und totale Zeitverschwendung.
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In der prähistorischen Archäologie waren Gräber zunächst die wichtigsten Forschungsobjekte. Sie wurden als Spiegel des Lebens und als direktes Abbild der Gesellschaft angesehen. Die Kleidung, die Bestattete trugen, wurde als übliche (Alltags-) Kleidung oder Tracht angesprochen, die beigegebenen Gegenstände wurden als persönliche Habe der bestatteten Person angesehen, die diese im Leben benutzte. Inzwischen gelten diese Annahmen als überholt: Bestattungen werden viel eher als eine Möglichkeit gesehen, wie Hinterbliebene sowohl die bestattete Person als auch sich selbst darstellen können. Nicht nur der Status der*des Verstorbenen wird ausgedrückt, sondern ebenso der Status der Angehörigen – das wird klar, wenn man sich überlegt, dass sich niemand selbst bestattet. Außerdem sind Bestattungsrituale (inklusive Kleidung und Beigaben) nicht individuell, sondern sie folgen bestimmten gesellschaftlichen Normen und Werten. Es ist anzunehmen, dass eine bestattete Person mit ihrer Kleidung und ihren Beigaben ein Idealbild der entsprechenden Gesellschaft verkörpert und wir können nicht mit Sicherheit davon ausgehen, dass die Person als Indiviuum diesem Idealbild auch (vollkommen) entsprach. Sicher sagt die Bestattung trotzdem etwas über die Gesellschaft und ihre kollektive Identität aus, sollte aber nicht eins zu eins mit einer Lebensrealität gleichgesetzt werden.
Die Interpretation des Grabes als genaues Abbild des Lebens zeigt, dass archäologische Forschung nicht objektiv und nicht endgültig ist, sondern dass bestimmte Annahmen im Laufe der Zeit Diskussion und Veränderungen erfahren.
Aber zurück zu den Gräbern.
Was einige vielleicht nicht wissen: Es war lange Zeit üblich, das Geschlecht einer bestatteten Person ausschließlich anhand der Grabbeigaben zu bestimmen (die sogenannte archäologische Geschlechtsbestimmung). Welche Grabbeigaben eignen sich aber zur Bestimmung des Geschlechts? Es war offenbar nicht vorstellbar, dass einer bestatteten Frau ein Schwert mit ins Grab gegeben wurde, also galten Schwerter und andere Waffen in der frühen Forschung (und leider häufig noch immer) als Indiz für Männergräber. Diese Annahme führte zu einem fatalen Zirkelschluss : Schwerter wurden mit Männlichkeit assoziiert, also wurden Gräber mit Schwertern als Männergräber angesprochen. Bei Auswertungen wurde dann festgehalten, dass Schwerter nur in Männergräbern gefunden wurden. Die Tatsache, dass das Schwert ja jeweils das war, was den Ausschlag für die Geschlechtsbestimmung gab, wurde einfach übersehen.
Schmuck galt nur bei gleichzeitiger Abwesenheit von Waffen als Indiz für eine Frauenbestattung. Enthielt ein Grab Waffen und Schmuck, so wurde von einer Männerbestattung ausgegangen, da die Waffe als ausschlaggebendes Definitionsmittel für Männergräber alle anderen Faktoren quasi übertraf. Ein Schmuck tragender Mann war demnach eher vorstellbar als eine Waffen tragende Frau. Diese Vorstellung schlug sich direkt in der archäologischen Geschlechtsbestimmung nieder, die eine der Grundlagen der archäologischen Forschung bildete und bis heute nicht aus den Köpfen der Archäolog*innen und der Gesellschaft verschwunden ist.
Da die Abwesenheit von Waffen auch andere Bedeutungen haben kann bzw. Waffen nicht auf allen Bestattungsplätzen üblich sind, wurde allerdings nicht jede Bestattung ohne Waffen im Umkehrschluss als Frauenbestattung interpretiert. Ein Merkmal, das in der Forschung so ausschließlich als Indiz für Frauenbestattung galt wie die Waffe für Männerbestattungen, gibt es meines Wissens nach nicht. Diese Umstände führen zu einer erhöhten Sichtbarkeit von Männern und einer erhöhten Unsichtbarkeit von Frauen und verzerren die Realität.
Neben der archäologischen Geschlechtsbestimmung gibt es die Möglichkeit der anthropologischen Geschlechtsbestimmung, die anhand von Maßen und Ausprägungen bestimmter Charakteristika an menschlichen Skeletten oder Skelettresten erfolgt. Je vollständiger das Skelett ist, desto sicherer ist die Geschlechtsbestimmung. Da am menschlichen Becken ein “funktionell bedingter Geschlechtsdimorphismus” (Grupe et al.: Anthropologie. Ein einführendes Lehrbuch (2005), S 93) vorliegt, ist die Bestimmung hier am sichersten und liegt für erwachsene Individuen bei einer Zuverlässigkeit von bis zu 96%. Merkmale und Maße von Schädel und Zähnen bieten ebenfalls eine hohe Bestimmungssicherheit, da Elemente an weiblichen Skeletten im Allgemeinen kleiner und weniger robust sind als die an männlichen. Allerdings muss für den sinnvollen Vergleich dieser Maße im Vorfeld eine Gesamterfassung der zu untersuchenden Population erfolgen und eine Serie als Datengrundlage aufgestellt werden, da es keine präzisen Grenzen zwischen den Geschlechtern gibt und die Maße relativ sind. Für die anthropologische Geschlechtsbestimmung muss der Geschlechtsdimorphismus der Vergleichsserie bekannt sein. Die Geschlechtsbestimmung von fragmentarisch erhaltenen Skelettresten kann bis zu 80% erfolgreich sein, die Geschlechtsbestimmung von nicht erwachsenen Individuen liegt bei etwa 70%.
Auch die anthropologische Geschlechtsbestimmung hat also bei weitem keine hundertprozentige Bestimmungssicherheit, hat aber gegenüber der archäologischen Methode einen eindeutigen Vorteil: Sie beruht nicht auf Objekten, von denen wir annehmen, dass sie einem bestimmten Geschlecht (von zweien, die in unserer Gesellschaft akzeptiert sind) zugeordnet sind. Damit enthält sie nicht schon im Vorfeld die unbegründete Prämisse von geschlechtsspezifischen Tätigkeiten oder einer geschlechtsspezifischen Nutzung von Objekten.
Ich habe schon im letzten Artikel über Vorannahmen gesprochen, die in der archäologischen Interpretation implizit bestehen. Die Annahme, dass eine Waffe als Beigabe auf eine Männerbestattung hinweist, ist nur eine davon. Weitere Annahmen, die zu einer Verzerrung des Gesellschaftsbildes vergangener Gemeinschaften führen, sind die der binären Geschlechterordnung und der ausschließlich heterosexuellen Paarbeziehung – sehr häufig wird gar von Ehe und Heirat gesprochen, ohne das Konzept auch nur ansatzweise zu hinterfragen. Diese Vorannahmen erfolgen stillschweigend; sie werden als so selbstverständlich vorausgesetzt, dass sie in keiner Weise thematisiert oder gar diskutiert werden. Ich kann mich an keine gängige Lektüre im Studium erinnern, die von diesen Annahmen abweichende Überlegungen anstellt. Dabei ist es ist nicht so, dass es keine Fachliteratur zu Genderthemen in der Archäologie gibt (es gibt zum Beispiel die Bände von FemArc ). Ich wurde von einer Ausgrabungsleiterin auf diese Themen aufmerksam gemacht und habe dann für meine Magistraarbeit umfangreich recherchiert. Wenn aber kein eigenes Interesse an kritischer Betrachtung von Archäologie und Geschlecht besteht, ist davon nichts zu merken; diese Themen sind weder Teil des Studiums, noch allgemein in der archäologischen Forschung verankert. Neuere Literatur lässt jedoch hoffen, dass langsam ein Wandel eintritt.
Gesellschaftsformen mit mehr als zwei Geschlechtern oder mit von den vorherrschenden Vorstellungen abweichenden Geschlechterrollen wurden in der Archäologie bisher selten in Betracht gezogen. Seminare und Vorlesungen im Studium waren ebenfalls stark in der Tradition verhaftet, obwohl ich Professoren (sic!) hatte, die eigentlich weiter gedacht haben. Dementsprechend ist auch für mich in vielerlei Hinsicht ein Umdenken bzw. ein Mehrdenken nötig.
Die anthropologische Geschlechtsbestimmung hat zwar gegenüber der archäologischen Geschlechtsbestimmung den bereits genannten Vorteil, dass sie nicht auf eine Interpretation von Objektnutzung angewiesen ist und stattdessen anhand körperlicher Merkmale erfolgt, jedoch ist auch das nicht ganz unproblematisch: Erstens befinden wir uns damit ebenfalls in einem binären Interpretationssystem, das nur Männer und Frauen mitdenkt und zulässt. In einem nicht-binären Gesellschaftssystem ist Geschlecht aber nicht am Körper ablesbar, kann also durch die anthropologische Geschlechtsbestimmung nicht erfasst werden. Zweitens sind zwar physische Merkmale erkennbar, aber das hilft nur sehr bedingt weiter: das hormonale Geschlecht ist durch die physische Anthropologie ebensowenig erfassbar wie das genetische Geschlecht oder das gonadale Geschlecht (und auch das genitale Geschlecht ist nur unter bestimmten konservatorischen Umständen sichtbar), und so zeigt diese entsprechend nur einen kleinen Ausschnitt von dem, was nach dem Verständnis unserer Gesellschaft das Geschlecht bedingt. Zudem ist weder vorauszusetzen, dass sich eine Geschlechteridentität in der entsprechenden zu untersuchenden Gesellschaft an diesen Merkmalen orientiert bzw. damit korreliert, noch, dass Geschlecht überhaupt relevant für die eigene Identität innerhalb dieser Gesellschaft ist. Die Anthropologie bezieht sich also nur auf Körper, Überlegungen zu sozialen Identitäten und Geschlechterrollen bleiben spekulativ (und sind dann zusätzlich auf die Beigaben angewiesen). Das heißt nicht, dass diese Überlegungen nicht angestellt werden können oder sollten, sondern nur, dass keine Tatsachen dargestellt werden können und dass Überlegungen als solche erkennbar sein sollten.
Was außerdem bei allen Interpretationen und Rekonstruktionen vergangener Gesellschaften beachtet werden sollte, ist, dass der menschliche Körper und seine Form als ein gesellschaftliches bzw. kulturelles Produkt angesehen werden müssen. Der Körper wird unter anderem durch Ernährung und Aktivitäten bzw. Belastungen geformt, die in manchen Gesellschaften abhängig vom Geschlecht sein können. Dabei zeigt sich jedoch gegebenenfalls eine geschlechtsspezifische Arbeitsteilung der untersuchten Gesellschaft und nicht eine interpretierte geschlechtsspezifische Arbeitsteilung anhand von Objekten, die ohne nachvollziehbare Grundlage einem bestimmten Geschlecht zugeordnet werden. Auf diese Weise wird es also möglich, die Wahrnehmung und Inszenierung von Geschlecht in der jeweiligen zu untersuchenden Gesellschaft in Teilen zu rekonstruieren. Es darf nur nicht der Fehler begangen werden, die Körperform als natürlich anzusehen und damit jede eventuell bestehende Differenz zwischen Körpern verschiedenen Geschlechts als biologische Gegebenheit zu betrachten. Was erschwerend hinzukommt, ist, dass auch unser Blick auf den Körper bereits kulturell geprägt ist, sodass wir Menschen aufgrund ihrer primären und sekundären Geschlechtsmerkmale in “männliche Körper” und “weibliche Körper” einteilen. Kultur geht hier der Natur sozusagen voraus.
Belastungen, Ernährung und körperliche Aktivitäten haben Einfluss auf die körperlichen Merkmale. Wird das Geschlecht anhand der Robustizität der Knochen bestimmt, werden Frauen, die harte körperliche Arbeiten verrichtet haben, unter Umständen anthropologisch als “männlich” bestimmt (was wieder in einer kulturell geprägten Erwartungshaltung bzw. Vorstellungsmöglichkeit begründet liegt). Trotzdem – und weil die Robustizität der Knochen nicht die einzige Möglichkeit der physischen Geschlechtsbestimmung ist – gibt es viele Fälle, in denen Menschen mit weiblich gelesener Physiognomie, die zu Lebzeiten männlich konnotierte Tätigkeiten ausgeführt haben, nach ihrem Tod weiterhin anthropologisch als “weiblich” bestimmt werden können. Das zeigt, dass die anthropologische Geschlechtsbestimmung eine gesellschaftliche Dimension aufdecken kann, die bei der Anwendung der archäologischen Geschlechtsbestimmung verborgen bleiben würde: geht man nur nach den Beigaben und nimmt an, dass Schwerter ausschließlich Männern beigegeben wurden, sind nur kämpfende Männer sichtbar (archäologische Geschlechtsbestimmung). Geht man nach dem anthropologischen Befund, können auch kämpfende Frauen in Erscheinung treten (zum Beispiel Wikingerinnen ). Ob ein anderes Verständnis von Geschlecht, ein Geschlechterrollenwechsel, oder eine von unserem traditionellen Weltbild abweichende Geschlechtsidentität dahinter steckt, oder ob Aktivitäten und Beigaben in der jeweiligen Gesellschaft gar keinen Zusammenhang mit dem Geschlecht hatten, lässt sich nicht einfach und vor allem nicht pauschal beantworten. Immerhin lässt sich mit Hilfe der anthropologischen Geschlechtsbestimmung eine weitere Facette unserer Vergangenheit zeichnen und ein differenzierteres Bild entwerfen als durch die archäologische Geschlechtsbestimmung. Leider wird in der prähistorischen Archäologie allzu häufig letzterer der Vorzug gegeben. Es ist nicht nur so, dass die anthropologische Geschlechtsbestimmung nicht der Standard ist, sondern es gibt mehrere mir bekannte Fälle, in denen Skelette aufgrund ihrer Beigaben umgedeutet wurden, und Fälle, in denen das Urteil des zuständigen Anthropologen (betrifft möglicherweise auch Anthropologinnen, allerdings nicht in den mir bekannten Beispielen) durch die Ausstattung der*des Bestatteten beeinträchtigt wurde.
Dass das Bild, das sich durch das Zusammenspiel von anthropologischer Geschlechtsbestimmung und Beigabenzuordnung zeichnen lässt, aber noch nicht differenziert genug ist, zeigt die bereits genannte bestehende Annahme einer binären Geschlechterordnung und vorherrschender Heteronormativität. Hier ist ein entsprechendes Bewusstsein in der archäologischen Forschung nötig und hier muss in archäologischen Interpretationen angesetzt werden. Dass es durchaus Gedanken in diese Richtung gibt, zeigt ein jüngerer Befund aus Prag, den ich zu gegebener Zeit in einem eigenen Artikel vorstellen möchte.
Wie sehr unsere vermeintliche Vergangenheit unsere Gegenwart beeinflusst, sehen wir an Aussagen wie „das war schon immer so!“. Solange wir ohne handfeste Beweise davon ausgehen, dass ausnahmslos Männer für die Jagd zuständig waren, während die Frauen brav in der Höhle saßen und die Kinder aufzogen, wird das auch unsere Zukunft beeinflussen. Die Interpretation archäologischer Funde und Befunde hat Einfluss darauf, wie wir unsere Welt wahrnehmen und dient der Legitimierung des Status quo. Wie sehr die archäologische Forschung jedoch von gängigen Vorstellungen über Geschlechterrollen geprägt ist und damit ein Weltbild aufrecht erhält, das auf fragwürdigen Grundlagen basiert, zeigt der Zirkelschluss Schwert = Mann = nur Männer haben Schwerter. Dabei wird deutlich, dass wir sehen, was wir kennen und erwarten. Frauen wird dabei ebenso wie Menschen, die außerhalb der binären Geschlechterordnung stehen, ein Teil ihrer Geschichte vorenthalten, indem bestehende Weltbilder und Vorstellungen auf die Vergangenheit projiziert werden. Die mögliche Vielfalt an (Geschlechter-) Identitäten wird nicht berücksichtigt und es entsteht ein eindimensionales, verzerrtes Bild unserer Vergangenheit.
Mein herzlicher Dank für Literaturhinweise und Korrekturen im anthropologischen Teil geht an die Anthropologin Johanna Kranzbühler von http://skelettanalysen.de
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Ich möchte in dieser Archäologieserie zeigen, dass das Bild wesentlich differenzierter ist und dass pauschale Aussagen über Geschlecht und Geschlechterrollen nicht haltbar sind. In diesem einleitenden Artikel geht es um die grundlegende Frage der Perspektive, weitere Beiträge werden in unregelmäßigen Abständen folgen.
Die prähistorische Archäologie etablierte sich als akademische Disziplin in der zweiten Hälfte des 19. Jh., also zu einer Zeit, in der nur zwei sich diametral gegenüberstehende Geschlechter akzeptiert wurden, die gesellschaftlich getrennt und in ihren Rollen stark festgelegt waren. Zudem bestanden konkrete Zuschreibungen zu den Geschlechtern bzw. zu „männlichen“ und „weiblichen“ Eigenschaften. Die Einteilung von Grabfunden erfolgte primär über die Kategorien „männlich“ und „weiblich“ und es entstand das Modell, dass in der prähistorischen Archäologie großteils bis heute verwendet wird. Es ist wichtig, archäologische Interpretationen vor diesem Hintergrund zu sehen, genauso wie es generell wichtig ist, wissenschaftliche Erkenntnisse im Kontext ihrer Zeit zu sehen. Da wir alle von Zeitgeist und Gesellschaft geprägt sind, gibt es auch in der Wissenschaft keine wirkliche Objektivität. Wir finden am ehesten, was wir suchen und wir erkennen am einfachsten, was wir bereits kennen. So ist es kein Wunder, dass in der prähistorischen Archäologie (implizit) von ihrem Anfang im 19. Jh. an bestimmte Rollenverteilungen und die (bürgerliche) Kleinfamilie als Standard vorausgesetzt wurden, die im erstarkenden Bürgertum an Popularität gewann. Unser Weltbild beeinflusst unsere Interpretationen. Das geht uns allen so, wird immer so sein und ist auch nicht per se ein Problem, solange wir uns dessen bewusst sind und einige Dinge beachten:
1. Als Lesende*r müssen wir uns (wie bereits gesagt) klar machen, dass wir Interpretationen immer im gesellschaftlichen und historischen Kontext sehen müssen und dass sie immer nur so weit gehen, wie die*der Interpretierende zu denken fähig ist. Auch die Frage, welchen Zweck die jeweilige Literatur erfüllen soll, ist nicht zu unterschätzen. Als drastischstes Beispiel wäre hier archäologische bzw. historische Fachliteratur aus der NS-Zeit zu nennen, deren Inhalt auf propagandistische Zwecke zugeschnitten war. Unter anderem wollten die Archäolog*innen eine durchgängige Ahnenlinie zwischen den German*innen und den Deutschen nachweisen, was nicht zuletzt zur Legitimation von Gebietsansprüchen genutzt werden sollte.
Wir müssen außerdem bedenken, dass Forschungsergebnisse oft temporär sind und nach einigen Jahrzehnten in Frage gestellt oder sogar völlig verworfen werden. Ein gutes Beispiel dafür ist die Moorleiche, die nach ihrem Auffinden in den 1950er Jahren als „Mädchen von Windeby“ bezeichnet wurde. Aufgrund einer Geste (der sogenannten „Feigenhand“) wurde sie vom zuständigen Archäologen als Ehebrecherin interpretiert. Bei DNA-Analysen 2006 stellte sich heraus, dass es sich mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit um ein männliches Individuum handelt und die „Feigenhand“ erwies sich als nachträgliche Manipulation.
2. Als Interpretierende*r / Schreibende*r ist es wichtig, unsere Ausgangsposition für uns zu formulieren und für andere offen zu legen. Denn ein großes Problem ist, dass bestimmte Vorannahmen nicht kommuniziert oder diskutiert, sondern stillschweigend vorausgesetzt werden. Dazu gehört nicht nur die bereits genannte Voraussetzung der Kleinfamilie in archäologischen Kontexten, sondern zum Beispiel auch die feststehende Annahme, dass Waffen männliche Attribute sind und in Form von Beigaben als Indikatoren für Männergräber herangezogen werden können. (Mehr dazu im nächsten Artikel dieser Serie.)
Der zweite Punkt betrifft mich als Schreibende natürlich ebenso wie alle anderen. Meine Ausgangsposition ist aktuell folgende: Ich bin prähistorische Archäologin und habe einen genderwissenschaftlichen Schwerpunkt. Ich gehe davon aus, dass archäologisch nachweisbare Gesellschaften komplex und divers sind (ebenso wie unsere Gesellschaft), was dazu führt, dass mir Ausnahmen in archäologischen Befunden viel eher und viel positiver auffallen als traditionell geprägten Forscher*innen. Ebenso kann ich mir nicht vorstellen, dass immer und zu jeder Zeit ausnahmslos gleiche Geschlechterrollen vorherrschten – und daher versuche ich z.B. nicht, eine Frauenbestattung mit Schwert auf Biegen und Brechen zu einer Männerbestattung umzudeuten oder den möglichen Gebrauch des Schwertes wegzuargumentieren (auch dazu später mehr). Ich nehme zunächst keine Aufgabenteilung nach Geschlecht an. Außerdem suche ich explizit nach Ausnahmen von dem, was als Nachweis für traditionelle Rollenverteilung interpretiert werden kann und somit nach Belegen für die von mir angenommene Diversität. Das färbt meine Untersuchungen auf bestimmte Weise ein – auf andere Weise als Untersuchungen von traditionell geprägten Archäolog*innen. Ich versuche nicht, Ausnahmen wegzuargumentieren oder aus statistischen Gründen unter den Tisch fallen zu lassen – denn es geht nicht um eine Statistik, sondern um (vergangene) Lebensrealitäten und darum, ein möglichst umfassendes Bild der jeweiligen Gesellschaft zu rekonstruieren.
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Die Frau ist selbst schuld, wenn sie so einen kurzen Rock anzieht und die Lippen rot macht! Also, natürlich nicht Schuld an einer Vergewaltigung, aber mit so einer Aufmachung sendet sie schon Signale aus! Wenn eine Frau einen kurzen Rock anzieht, dann heißt das doch, dass sie angemacht werden will. Sie macht sich doch hübsch – für die Männer. Und dann darf sie sich nicht beschweren, wenn ein Mann auch mal das Aussehen kommentiert!
Das Zitat ist fiktiv und künstlich verdichtet. Aber es bringt ganz gut die Aussagen über eine verbreitete Ansicht auf den Punkt, wer denn Schuld habe, wenn sexistische Bemerkungen fallen. Ich möchte mich heute aber nicht an der Schuldfrage abarbeiten, sondern erklären, wieso von außen als „sexy“ wahrgenommene Kleidung unter Umständen vollkommen anders intendiert ist.
Statt hier eine Einführung in die Definition der Rape Culture zu geben (was andere an anderer Stelle viel schöner tun als ich), möchte ich Einblicke geben, warum ich mich anziehe, wie ich mich anziehe. Warum ich an manchen Tagen einen Minirock aus dem Schrank hole. Was das mit der Kultur zu tun hat, mit Zeichen und Codes. Und wieso das rein gar nichts damit zu tun hat, dass ich gern objektifiziert, bewertet oder sexistisch kommentiert werden würde.
Jeden Morgen erfinde ich mich neu. Mit dem Griff in den Kleiderschrank wähle ich ein Äußeres für den Tag. Dieses Äußere, für das ich mich entscheide, korrespondiert mit meinem Inneren. Es gibt Tage, an denen ich mich um nichts in der Welt in eine enge Jeans zwängen würde. Und solche, an denen es nichts passenderes gibt. Zur Kleidung gesellt sich das Make-up als weitere Ausdrucksform. Mein „Schmink-Standardprogramm“ wechselt häufig. Und, klar, auch das Make-up ist nicht alleine ein Versuch, „hübsch“ auszusehen und damit eine Aussage darüber, was genau ich persönlich als hübsch definiere, an welchem Schönheitsideal ich mich orientiere. Es ist für mich ebenso Spiegel meiner Persönlichkeit und meiner Befindlichkeit wie meine Kleidung. Wenn ich also nach langer Zeit von Jeans und Nur-Lidstrich zu flatterndem Rock wechsle, die Haare wieder offen trage und einen knallroten Lippenstift auflege, dann will ich damit die Botschaft ändern, die ich nach außen sende.
Bei dieser Selbst-Konstruktion bediene ich mich kulturell verankerter Codes . Ich verwende Bilder, Meme , Tropen , die im mir bekannten Kulturkontext existieren, um Aussagen über mich zu treffen. Ich stelle mit Hilfe von Zeichen Verbindungen her zwischen mir und dem Objekt, auf das ich referenzieren will. Ein einfaches Beispiel sind Cowboystiefel. Zieht sich ein Mensch Cowboystiefel an, weckt er*sie damit Assoziationen an Western, an Amerika, an Goldgräber*innen, Revolverheld*innen und so weiter.
Anders formuliert könnte man auch sagen: Ich lasse mich von diesen Assoziationen inspirieren. Mal ist es ein Foto in einer Zeitschrift, mal eine Frau, die ich auf der Straße sehe. Manchmal fasziniert mich die Kleidung einer Protagonist*in in einem Film, mit der ich mich identifizieren kann, und manchmal historische Persönlichkeiten. Solche Codes sind sehr praktisch, denn sie kommunizieren stark verdichtete Informationen zwischen Menschen, die sie verstehen. Aber das ist nicht immer der Fall. Stellen wir uns vor, ein Alien besuchte die Erde und sähe die Cowboystiefel aus unserem Beispiel. Was würde es sehen? Vermutlich die Funktion: ein fußumhüllendes Kleidungsstück aus stabilem Material, das vor dem direkten Kontakt mit dem Untergrund schützt. Das dürfte es dann gewesen sein. Mit den Details, die Cowboystiefel zu Cowboystiefeln machen – wadenhoch, oben etwas weiter, die Spitze ausgeprägt aber nicht spitz, kleiner Absatz, Schnalle – könnte es nichts anfangen. Denn diese Details übermitteln kulturell geprägte Botschaften, die einen Empfänger brauchen, der sie decodieren kann. Beim Decodieren passieren zwei Dinge: Menschen, die die Codes kennen, verstehen die Botschaft implizit, also z.B. „Langer, geschwungener Lidstrich und roter Lippenstift: Könnte eine 60s-Anleihe sein, vielleicht mag sie das aktuelle 60s-Musik-Revival oder Mad Men“.
Neben dem Inhalt der Botschaft wird aber auch klar, dass überhaupt ein gemeinsamer kultureller Hintergrund besteht, der das Lesen des Codes erst ermöglicht, was so ein Ingroup-Gefühl herstellt. Damit birgt die Verwendung von bestimmten Codes neben der Ausdrucksmöglichkeit zusätzlich die Chance, sich selbst einer Gruppe mit bestimmten Interessen und Werten zuzuordnen. Um ein Beispiel zu nennen: Eines meiner Kleider lässt mich ein wenig wie eine Priesterin im antiken Griechenland aussehen, ein zweites Kleid erinnert eher an eine Hippie. Funktional betrachtet unterscheiden sie sich kaum: Sie sind beide lang, beide aus Baumwolle, und beide nur für sehr warmes Wetter geeignet. Vielleicht bin ich heute besonders alternativ-öko-groovy drauf und will das auch zeigen. Welches Kleidungsstück ich wähle, hängt also nicht allein von funktionalen Aspekten ab, sondern davon, wie ich mich fühle, wie ich mich darstellen möchte. Ich bediene mich der Codes, um Hinweise darauf zu geben, wie ich meine Position in der Gesellschaft sehe, wie meine Stimmung heute ist oder wie ich wahrgenommen werden will. Wähle ich also das Hippie-Kleid, bin ich auf jeden Fall unbeschwerter, lockerer, grooviger unterwegs als in meinem Priesterin-der-Athene-Outfit. Aber Menschen, die die Codes nicht kennen, verstehen nichts.
Zusammengefasst bediene ich mich also kulturell verankerter Codes, um Botschaften auszusenden. Das tut jede*r von uns, wenn auch in unterschiedlichem Maße, in verschieden starker Reflektiertheit und aus unter Umständen unterschiedlichen Quellen. Dadurch, dass nicht alle Quellen allen Menschen gleich zugänglich oder gleich präsent sind, stelle ich entweder eine Ingroup-Beziehung zu jemandem her, der*die die Codes lesen kann – oder tue genau das nicht. Kann jemand die Codes nicht lesen, ist schwer zu vermeiden, dass sie – von der Outgroup – falsch gelesen werden. Wo ich vollkommen blind für die Bedeutung von Markenkleidung bin (sind Hosen von Adidas gerade „cooler“ als Levi’s? Bin ich mit Nike sportlicher unterwegs als mit Puma? Ist Hollister trendiger als Hilfiger?), können andere nicht auf die Kunst der griechischen Antike zugreifen.
Natürlich verändert sich die Konnotation auch über die Zeit. Alte Assoziationen lösen sich auf, neue kommen hinzu. War die Jeans am Anfang ihrer Geschichte nichts als ein robustes Kleidungsstück für Arbeiter*innen, wurde sie in den 1950ern zu einem Code für gesellschaftlichen Ungehorsam und Rebellion, gerade, indem sich die Träger*innen in die Tradition der Arbeiter*innen stellten. Heutzutage sind Jeans kaum noch revolutionär und haben sogar in den Dresscode Einzug gehalten.
All das überlege ich, mal mehr elaboriert, mal weniger, wenn ich mich für oder gegen Kleidung entscheide. Und, um es ganz klar zu sagen: Nein, ich überlege mir nicht, ob ich damit Männer anmache. Wozu auch? Ich bin exklusiv liiert und nicht auf der Suche. Und ich empfinde Pfiffe, derbe Sprüche und gierige Blicke auch nicht als Kompliment. Wenn ich etwas Figurbetontes trage, dann, weil ich mich gerade in meinem Körper wohl fühle. Und erst, wenn ich an unangenehme Blicke in der S-Bahn oder billige Anmachen denke, frage ich mich, ob mein Outfit zu gewagt ist, etwa mein Priesterin-der-Athene-Kleid zu durchsichtig oder mein Hippiekleid zu schulterfrei. Und meine Frage lautet dann: „Kann ich das trotzdem anziehen?“ und nicht: „Ich möchte das gern deswegen tragen!“
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Sucht man auf Google nach „berühmte Physikerin“, wird man direkt weitergeleitet zu: „berühmte Physiker“:
Auch wenn ich auf „stattdessen suchen nach: berühmte Physikerin“ klicke, sind die deutschsprachigen Seiten, die ich finde, seltener hilfreich als erhofft. Erster Treffer ist Wikipedias Liste von – Physikern . Diese Liste enthält zugegebenermaßen auch Physikerinnen, aber allein das Verhältnis der bildlich dargestellten Männer und Frauen liegt bei 26:2. Zweiter Treffer ist ein kruder Schulessay über fünf Physikerinnen. Es folgt der Deutsche Bildungsserver , der sich selbst als den „Wegweiser zur Bildung“ bezeichnet. Die Seite titelt zwar vollmundig „ Berühmte Physikerinnen und Physiker „, was an sich schon eine Leistung ist. (Frauen werden genannt, yay!) Die Liste der Frauen fällt dagegen mager aus: In der zehn Personen umfassenden Liste ist gerade mal eine genannt: Lise Meitner . Sie ist wichtig. Aber bei weitem nicht die einzige Frau auf diesem Feld.
Sucht man auf Wikipedia nach „Mathematikerin“ , wird man auf die Seite „Mathematiker“ umgeleitet:
Wichtig ist hier, das Suchinteresse im Auge zu behalten. Wir leben in einer Welt, die sprachlich immer noch vom generischen Maskulinum dominiert wird. (Dass das an sich problematisch ist, ist in der Wissenschaft inzwischen mehr als hinreichend belegt .) Das generische Maskulinum besagt, Frauen seien grundsätzlich bei männlichen Bezeichnungen mitgemeint und müssen nicht gesondert genannt werden. Wählt in diesem Kontext eine Person ausdrücklich die weibliche Form für eine Suchanfrage, kann gefolgert werden, dass hier tatsächlich ausschließlich weibliche Suchergebnisse gewünscht werden.
Daher ist es ein Problem, dass die explizite Suche nach Frauen aber offensichtlich allgemeine oder explizit männliche Ergebnisse zutage fördert. Denn d ie gefundenen Texte behandeln Frauen nur am Rande. Andersherum ist das aber nicht der Fall: Sucht man nach „Mathematiker“, wird „natürlich“ nicht „meinten Sie: Mathematikerin“ vorgeschlagen. Das heißt, dass selbst wenn nach Frauen gesucht wird, diese nicht oder nur am Rande gefunden werden. Das macht es mir ungleich schwerer, die Informationen zu finden, die ich explizit suche.
Sicher: Es gibt immer die Möglichkeit, die Suche weiter zu konkretisieren und dann doch noch zu den von mir gesuchten Ergebnissen zu kommen. Ich kann bei Google auf den winzigen Schriftzug „stattdessen suchen nach: „berühmte Physikerin“ klicken, und bei Wikipedia weiter nach unten scrollen zur Liste bedeutender Mathematikerinnen . Aber warum wird mir das so schwer gemacht? Wieso werden mir diese Steine überhaupt in den Weg gelegt, wo ich schon explizit nach der weiblichen Form gesucht habe? Wikipedia könnte die Weiterleitung so einrichten, dass ich direkt zu der Liste bedeutender Mathematikerinnen geführt werde, wenn ich nach der weiblichen Form suche. Easy as pie.
Noch aus einem weiteren Grund ist diese Verzerrung problematisch: Sie suggeriert, dass Frauen in der Wissenschaft unbedeutend seien. „Bist du sicher, dass du nach „berühmte Informatikerin“ suchen willst?“ fragt mich Google. „Meinst du nicht eigentlich „berühmte Informatiker“? … Männer?“ Dass selbstverständlich nicht nur Männer Informatiker*innen sein können, beweisen Frauen wie Ada Lovelace , Grace Hopper und viele andere.
Die man aber zunächst nicht findet.
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